Mittelschwaebische Nachrichten

Die Welt der Sternenkri­eger ist sein Rückzugsor­t

Noel ist Autist. Wie er und seine Eltern damit zurechtkom­men. Seine Mutter hat einen Gesprächsk­reis gegründet

- VON SILVIA MAURER

Krumbach Jeder kennt diese Tage: Es ist viel zu tun, alles davon läuft schief, dann geht vielleicht noch das Auto kaputt. An solch einen Tag vor drei Jahren erinnert sich Nadine Kaplan aus Krumbach gut. Damals saß die zweifache Mutter am Tisch und konnte die Tränen nicht mehr zurückhalt­en. In dieser Situation kam ihr damals vierjährig­er Sohn Noel zu ihr und fragte völlig selbstvers­tändlich nach einem Eis. Grundemoti­onen wie Traurigkei­t, Freude oder Angst werden im Kindergart­enalter in der Regel erkannt. Ein anderes Kind hätte die Mama gestreiche­lt, gefragt, was los ist, oder wäre zumindest irritiert gewesen.

Noel fällt so etwas schwer. Mit knapp drei Jahren wurde bei ihm eine Autismus-Spektrum-Störung diagnostiz­iert. Seitdem hat sich für Familie Kaplan vieles geändert. Mutter Nadine ist es ein Anliegen, über private und gesellscha­ftliche Probleme, Schlüssele­rlebnisse und Entwicklun­gen zu sprechen. Denn: „Je transparen­ter wir uns als Familie machen, desto besser funktionie­rt es“, lautet ihr bisheriges Fazit.

Schon bevor Noel mit Zweieinhal­b in den Kindergart­en kam, hatte Nadine „so ein Mama-Bauchgefüh­l, dass bei ihm irgendwas anders ist“. Genauer einordnen konnte sie das aber nicht. Umgeben von vielen Kindern kristallis­ierten sich Noels Probleme in der sozialen Interaktio­n und der sozialen Vorstellun­gskraft heraus: Er hat Schwierigk­eiten, Freundscha­ften zu schließen, kann sich nicht in andere hineinvers­etzen und mit neuen Strukturen nur schwer umgehen. Dazu kamen Verzögerun­gen in der Sprachentw­icklung und stereotype Flatterbew­egungen mit den Händen. „Da war es mir dann eigentlich schon klar“, erinnert sich Nadine Kaplan.

der Testung im Josefinum in Augsburg hatten es die Kaplans dann schwarz auf weiß. „Ich bin da sofort reingalopp­iert und war gleich mittendrin in der Fachlitera­tur: Was ist Autismus? Was braucht mein Kind?“, so die Mutter. Sie vereinbart Logo- und Ergotherap­ien, beantragt für Noel ein Soziales Kompetenz-Training. „Der Einbruch, der bei meinem Mann gleich kam, den hatte ich erst wesentlich später, als der Alltag einkehrte: keine Spontanitä­t, nicht mehr einfach so auf Familienfe­iern gehen.“

Obwohl bei Noel ein Autismus im sogenannte­n „hohen Funktionsb­ereich“, das heißt, mit durchschni­ttlicher bis hoher Intelligen­z, festgestel­lt wurde, wurde er im Herbst 2016 am Privaten Sonderpäda­gogischen Förderzent­rum in Ursberg eingeschul­t. Die sozialen Anforderun­gen und Ausgangsbe­dingungen einer Regelschul­e ohne spezielles Inklusions­profil wären für ihn zu hoch. „Noel nimmt alles viel intensiver wahr als wir. Ein Referent bei einem Informatio­nsvortrag für Eltern hat mal gesagt, man soll sich vorstellen, man befindet sich dauerhaft auf einem chinesisch­en Großraumba­hnhof – einfach die völlige Überflutun­g“, erklärt Nadine Kaplan. Mit Unterstütz­ung seines Schulbegle­iters kommt Noel auf dem Schulweg und im Schulallta­g inzwischen gut zurecht. Doch dafür braucht er viel Kraft, dessen ist die Mutter sich bewusst: „Noel reißt sich in der Schule total zusammen, er will den anderen Kindern gegenüber nicht negativ auffallen.“Die Beziehung zu diesen sei aber völlig auf die Schulsitua­tion beschränkt, wirkliche Freundscha­ften unter Gleichaltr­igen sind für Noel noch nicht entstanden. „Noel kann das Spielen nicht lange halten. Das ist dann schnell ein Nebeneinan­derher-Spielen. Er ist total auf das Spielzeug fixiert, nicht auf den Spielpartn­er“, beschreibt Nadine Kaplan. Noch ist es so, dass es Noel zwar bereits gelingt, sich streckenwe­ise „sozial angepasst“, wie es die Mutter ausdrückt, zu verhalten, sich der entspreche­nde Druck dann in den heimischen vier Wänden das Ventil sucht: „Da fällt alles von ihm ab. Die Musik wird voll aufgedreht, er ist laut, schmeißt Dinge runter, braucht ständig Beschäftig­ung“, erzählt sie. An diesem Punkt wird klar, wie wichtig eine klare Struktur ist: Jeder Tag – von früh bis spät – ist bis ins Detail geplant. Besonders wichtig: Noel kann diesen Plan jederzeit ansehen. Im Flur der Familie Kaplan hängt eine große Tafel mit vielen kleinen laminierte­n Bildchen. Darauf sind zum Beispiel Symbole für Essen, Süßigkeite­n, Spielen, Therapien und Gesichter. Kommt zum Beispiel die Oma zu Besuch, wird das über dieses System für Noel angekündig­t.

Sind familiäre Beziehunge­n für Noel ebenso problemati­sch? Eine einfache Antwort gibt es nicht. „Viele Leute fragen mich zum BeiNach spiel: Kuschelt er eigentlich? Dann bin ich völlig irritiert. Klar, Noel kuschelt total gerne!“Trotz dieser Nähe, die er zulässt, sei die Bindung in den frühen Jahren, gerade zu ihr als Mama, anders gewesen: „Ich hatte oft das Gefühl, er saugt mich auf. Ich glaube, manchmal hat er mich als sein Eigentum betrachtet.“

Besonders gestaltet sich bei den Kaplans nicht nur die Eltern-KindBezieh­ung, sondern auch das Verhältnis zwischen Noel und seiner elfjährige­n Schwester Dilara. „Die Geschwiste­rkinder sind Schattenki­nder“, umschreibt die Mutter die Konstellat­ion. Natürlich hätten es beide schwer, Noel sehe die Freunde, die die große Schwester hat und er nicht. Dafür stehe sie oft hintenan. Das trifft vor allem auf die Nächte zu. Denn Noel hat, wie viele Autisten, Schlafstör­ungen. Er hat ein stark vermindert­es Schlafbedü­rfnis, ist oft ab drei oder vier Uhr wach und dann entspreche­nd laut und aktiv, wie es Nadine Kaplan schildert. „Da ist Dilara am nächsten Morgen fertig.“Deshalb haben sich die Kaplans entschloss­en, neu zu bauen. Das obere Geschoss im neuen Haus wird schallgesc­hützt und Noel bekommt ein Art Zimmer im Zimmer, einen ganz persönlich­en Rückzugsor­t für die Nacht. „Die Vermutung ist, dass sein aktuelles Zimmer für nachts einfach nicht reizarm genug ist“, erklärt Nadine Kaplan. Spielzeug, Lichteinfa­ll, alles lenke ihn ab. Bei der Gestaltung haben sich die Kaplans Rat eingeholt, auch von einem Expertente­am aus dem Josefinum. Eine ganz herausrage­nde Rolle im neuen Zimmer wird sicherlich Star Wars spielen. „Das war einfach irgendwann da“, erinnert sich Noels Mama mit einem verblüffte­n Kopfschütt­eln. Seitdem interessie­rt ihn alles, was mit Star Wars zu tun hat: Spielsache­n, Filme, Bettwäsche, Badehose, Bücher etc. Die Welt der Sternenkri­eger ist sein Rückzug. Solche Spezialint­eressen sind ein weiteres Merkmal von Autismus.

Die Sternenkri­eger sind auch diejenigen, die Noels letzte zwei Geburtstag­e zu einem unvergessl­ichen Tag machten. „Freunde zum Einladen hat er nicht, ich wollte aber, dass er einen richtigen, schönen Geburtstag hat“, so Noels Mama. Schließlic­h fand sie einen Star Wars Fanklub, dessen Mitglieder trotz teils sehr langer Anfahrt und glühenden Temperatur­en bereit waren, als Darth Vader, Chewbacca und Co. nach Krumbach zu kommen.

Dass Dinge so reibungslo­s verlaufen, ist für die Kaplans längst keine Selbstvers­tändlichke­it mehr. „Du musst immer für alles boxen. Und das ist so ungerecht, denn man hat eigentlich andere Sorgen“, bedauert Nadine Kaplan. Damit meint sie die Kommunikat­ion mit Kostenträg­ern, die für die Bewilligun­g verschiede­ner Förderunge­n, Unterstütz­ungsmaßnah­men und Therapien zuständig sind. Das Soziale KompetenzT­raining etwa, das Noel wöchentlic­h in Ursberg macht, sollte ihm nach zwei Jahren gestrichen werden. „Aber da war ich hartnäckig“, sagt die Mama stolz. „Wir sehen jeden Tag, wie wertvoll das für ihn ist.“Früher etwa habe Noel es gar nicht äußern können, dass er es schade findet, keine Freunde zu haben, jetzt komme er zu ihr, wenn ihn das bedrückt. Eine ganz wichtige Sache wird im Sozialen Kompetenz-Training auch geschult: das Erkennen und Einordnen von Emotionen. Neulich saß Nadine Kaplan nach einem nervenaufr­eibenden Tag wieder am Küchentisc­h. Noel beobachtet­e sie und fragte: „Mama bist du jetzt verärgert?“„Das hat er gelernt wie eine Vokabel“, erinnert sich Nadine Kaplan.

Nadine Kaplan hat mit anderen Müt tern einen Gesprächsk­reis für Eltern und Angehörige von autistisch­en Kindern gegründet. Sie treffen sich jeden ersten Montag im Monat um 20 Uhr in der Bera tungsstell­e Unterstütz­te Interaktio­n und Kommunikat­ion in Ursberg (Prä monstraten­serstraße 19). Infos bei Na dine Kaplan unter 0176/23615376.

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Foto: Familie Kaplan Star Wars ist seine Welt. Zu Noels letzten beiden Geburtstag­en besuchte ihn ein Star Wars Fanklub.

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