Mittelschwaebische Nachrichten
Die Welt der Sternenkrieger ist sein Rückzugsort
Noel ist Autist. Wie er und seine Eltern damit zurechtkommen. Seine Mutter hat einen Gesprächskreis gegründet
Krumbach Jeder kennt diese Tage: Es ist viel zu tun, alles davon läuft schief, dann geht vielleicht noch das Auto kaputt. An solch einen Tag vor drei Jahren erinnert sich Nadine Kaplan aus Krumbach gut. Damals saß die zweifache Mutter am Tisch und konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten. In dieser Situation kam ihr damals vierjähriger Sohn Noel zu ihr und fragte völlig selbstverständlich nach einem Eis. Grundemotionen wie Traurigkeit, Freude oder Angst werden im Kindergartenalter in der Regel erkannt. Ein anderes Kind hätte die Mama gestreichelt, gefragt, was los ist, oder wäre zumindest irritiert gewesen.
Noel fällt so etwas schwer. Mit knapp drei Jahren wurde bei ihm eine Autismus-Spektrum-Störung diagnostiziert. Seitdem hat sich für Familie Kaplan vieles geändert. Mutter Nadine ist es ein Anliegen, über private und gesellschaftliche Probleme, Schlüsselerlebnisse und Entwicklungen zu sprechen. Denn: „Je transparenter wir uns als Familie machen, desto besser funktioniert es“, lautet ihr bisheriges Fazit.
Schon bevor Noel mit Zweieinhalb in den Kindergarten kam, hatte Nadine „so ein Mama-Bauchgefühl, dass bei ihm irgendwas anders ist“. Genauer einordnen konnte sie das aber nicht. Umgeben von vielen Kindern kristallisierten sich Noels Probleme in der sozialen Interaktion und der sozialen Vorstellungskraft heraus: Er hat Schwierigkeiten, Freundschaften zu schließen, kann sich nicht in andere hineinversetzen und mit neuen Strukturen nur schwer umgehen. Dazu kamen Verzögerungen in der Sprachentwicklung und stereotype Flatterbewegungen mit den Händen. „Da war es mir dann eigentlich schon klar“, erinnert sich Nadine Kaplan.
der Testung im Josefinum in Augsburg hatten es die Kaplans dann schwarz auf weiß. „Ich bin da sofort reingaloppiert und war gleich mittendrin in der Fachliteratur: Was ist Autismus? Was braucht mein Kind?“, so die Mutter. Sie vereinbart Logo- und Ergotherapien, beantragt für Noel ein Soziales Kompetenz-Training. „Der Einbruch, der bei meinem Mann gleich kam, den hatte ich erst wesentlich später, als der Alltag einkehrte: keine Spontanität, nicht mehr einfach so auf Familienfeiern gehen.“
Obwohl bei Noel ein Autismus im sogenannten „hohen Funktionsbereich“, das heißt, mit durchschnittlicher bis hoher Intelligenz, festgestellt wurde, wurde er im Herbst 2016 am Privaten Sonderpädagogischen Förderzentrum in Ursberg eingeschult. Die sozialen Anforderungen und Ausgangsbedingungen einer Regelschule ohne spezielles Inklusionsprofil wären für ihn zu hoch. „Noel nimmt alles viel intensiver wahr als wir. Ein Referent bei einem Informationsvortrag für Eltern hat mal gesagt, man soll sich vorstellen, man befindet sich dauerhaft auf einem chinesischen Großraumbahnhof – einfach die völlige Überflutung“, erklärt Nadine Kaplan. Mit Unterstützung seines Schulbegleiters kommt Noel auf dem Schulweg und im Schulalltag inzwischen gut zurecht. Doch dafür braucht er viel Kraft, dessen ist die Mutter sich bewusst: „Noel reißt sich in der Schule total zusammen, er will den anderen Kindern gegenüber nicht negativ auffallen.“Die Beziehung zu diesen sei aber völlig auf die Schulsituation beschränkt, wirkliche Freundschaften unter Gleichaltrigen sind für Noel noch nicht entstanden. „Noel kann das Spielen nicht lange halten. Das ist dann schnell ein Nebeneinanderher-Spielen. Er ist total auf das Spielzeug fixiert, nicht auf den Spielpartner“, beschreibt Nadine Kaplan. Noch ist es so, dass es Noel zwar bereits gelingt, sich streckenweise „sozial angepasst“, wie es die Mutter ausdrückt, zu verhalten, sich der entsprechende Druck dann in den heimischen vier Wänden das Ventil sucht: „Da fällt alles von ihm ab. Die Musik wird voll aufgedreht, er ist laut, schmeißt Dinge runter, braucht ständig Beschäftigung“, erzählt sie. An diesem Punkt wird klar, wie wichtig eine klare Struktur ist: Jeder Tag – von früh bis spät – ist bis ins Detail geplant. Besonders wichtig: Noel kann diesen Plan jederzeit ansehen. Im Flur der Familie Kaplan hängt eine große Tafel mit vielen kleinen laminierten Bildchen. Darauf sind zum Beispiel Symbole für Essen, Süßigkeiten, Spielen, Therapien und Gesichter. Kommt zum Beispiel die Oma zu Besuch, wird das über dieses System für Noel angekündigt.
Sind familiäre Beziehungen für Noel ebenso problematisch? Eine einfache Antwort gibt es nicht. „Viele Leute fragen mich zum BeiNach spiel: Kuschelt er eigentlich? Dann bin ich völlig irritiert. Klar, Noel kuschelt total gerne!“Trotz dieser Nähe, die er zulässt, sei die Bindung in den frühen Jahren, gerade zu ihr als Mama, anders gewesen: „Ich hatte oft das Gefühl, er saugt mich auf. Ich glaube, manchmal hat er mich als sein Eigentum betrachtet.“
Besonders gestaltet sich bei den Kaplans nicht nur die Eltern-KindBeziehung, sondern auch das Verhältnis zwischen Noel und seiner elfjährigen Schwester Dilara. „Die Geschwisterkinder sind Schattenkinder“, umschreibt die Mutter die Konstellation. Natürlich hätten es beide schwer, Noel sehe die Freunde, die die große Schwester hat und er nicht. Dafür stehe sie oft hintenan. Das trifft vor allem auf die Nächte zu. Denn Noel hat, wie viele Autisten, Schlafstörungen. Er hat ein stark vermindertes Schlafbedürfnis, ist oft ab drei oder vier Uhr wach und dann entsprechend laut und aktiv, wie es Nadine Kaplan schildert. „Da ist Dilara am nächsten Morgen fertig.“Deshalb haben sich die Kaplans entschlossen, neu zu bauen. Das obere Geschoss im neuen Haus wird schallgeschützt und Noel bekommt ein Art Zimmer im Zimmer, einen ganz persönlichen Rückzugsort für die Nacht. „Die Vermutung ist, dass sein aktuelles Zimmer für nachts einfach nicht reizarm genug ist“, erklärt Nadine Kaplan. Spielzeug, Lichteinfall, alles lenke ihn ab. Bei der Gestaltung haben sich die Kaplans Rat eingeholt, auch von einem Expertenteam aus dem Josefinum. Eine ganz herausragende Rolle im neuen Zimmer wird sicherlich Star Wars spielen. „Das war einfach irgendwann da“, erinnert sich Noels Mama mit einem verblüfften Kopfschütteln. Seitdem interessiert ihn alles, was mit Star Wars zu tun hat: Spielsachen, Filme, Bettwäsche, Badehose, Bücher etc. Die Welt der Sternenkrieger ist sein Rückzug. Solche Spezialinteressen sind ein weiteres Merkmal von Autismus.
Die Sternenkrieger sind auch diejenigen, die Noels letzte zwei Geburtstage zu einem unvergesslichen Tag machten. „Freunde zum Einladen hat er nicht, ich wollte aber, dass er einen richtigen, schönen Geburtstag hat“, so Noels Mama. Schließlich fand sie einen Star Wars Fanklub, dessen Mitglieder trotz teils sehr langer Anfahrt und glühenden Temperaturen bereit waren, als Darth Vader, Chewbacca und Co. nach Krumbach zu kommen.
Dass Dinge so reibungslos verlaufen, ist für die Kaplans längst keine Selbstverständlichkeit mehr. „Du musst immer für alles boxen. Und das ist so ungerecht, denn man hat eigentlich andere Sorgen“, bedauert Nadine Kaplan. Damit meint sie die Kommunikation mit Kostenträgern, die für die Bewilligung verschiedener Förderungen, Unterstützungsmaßnahmen und Therapien zuständig sind. Das Soziale KompetenzTraining etwa, das Noel wöchentlich in Ursberg macht, sollte ihm nach zwei Jahren gestrichen werden. „Aber da war ich hartnäckig“, sagt die Mama stolz. „Wir sehen jeden Tag, wie wertvoll das für ihn ist.“Früher etwa habe Noel es gar nicht äußern können, dass er es schade findet, keine Freunde zu haben, jetzt komme er zu ihr, wenn ihn das bedrückt. Eine ganz wichtige Sache wird im Sozialen Kompetenz-Training auch geschult: das Erkennen und Einordnen von Emotionen. Neulich saß Nadine Kaplan nach einem nervenaufreibenden Tag wieder am Küchentisch. Noel beobachtete sie und fragte: „Mama bist du jetzt verärgert?“„Das hat er gelernt wie eine Vokabel“, erinnert sich Nadine Kaplan.
Nadine Kaplan hat mit anderen Müt tern einen Gesprächskreis für Eltern und Angehörige von autistischen Kindern gegründet. Sie treffen sich jeden ersten Montag im Monat um 20 Uhr in der Bera tungsstelle Unterstützte Interaktion und Kommunikation in Ursberg (Prä monstratenserstraße 19). Infos bei Na dine Kaplan unter 0176/23615376.