Mittelschwaebische Nachrichten
Wie eine Decke Demenzpatienten hilft
Ingrid Louwers hat das „kleine Wunder“an ihrer Mutter selbst erlebt. Sie will auch andere Menschen unterstützen. Deshalb hat sie den Verein Herzensangelegenheiten gegründet. Jetzt sucht sie Mitstreiter
Günzburg Auf den Zusatz „therapeutisch“legt Ingrid Louwers Wert. Denn das, was sie und ihre Mitstreiterinnen liebevoll mit Applikationen bereichern und zusammennähen, ist eine „therapeutische Nesteldecke“. Damit macht Louwers den Unterschied zu den Spieldecken deutlich, die Kinder in einem bestimmten Alter ziemlich interessant finden. Denn darauf gibt es eine ganze Welt zu entdecken, die sich aus rauen und feinen Stoffen, aus ganz unterschiedlichen Farben und vielen Extras zusammensetzt.
Louwers’ Nesteldecken richten sich nicht an Buben und Mädchen. Sie sollen ein Halt für ältere Menschen sein, die an einer tückischen Krankheit leiden: Demenz.
Eine Decke, die Demenzpatienten im Endstadium helfen kann? „Ich hätte auch nicht gedacht, dass ein solch banaler Gegenstand diese therapeutische Wirkung erzielen kann“, sagt die Frau. „Aber ich habe es an meiner Mutter selbst gesehen.“Früher als viele andere Menschen konnte Ingrid Louwers die Zeichen deuten, die auf Demenz schließen lassen. Denn sie hat für verschiedene pharmazeutische Unternehmen im Vertrieb gearbeitet und beschäftigt sich seit inzwischen zwei Jahrzehnten mit dem Zentralen Nervensystem und psychischen Er- krankungen. „Ich hatte einen Vorteil, weil ich gewusst habe, was da auf mich zukommt.“
Das Wissen um Demenz und deren Folgen ist das eine, das persönliche Erleben ist das andere, das intensivere. Und wenn die eigene Mutter im Rollstuhl stumm und starr vor einem sitzt, dann verdrängt die Emotion die Vernunft. zerreißt einem fast das Herz“, sagt die im Günzburger Stadtteil Nornheim lebende Ingrid Louwers. Und sie fügt hinzu, dass sie aufpassen müsse, beim Erzählen nicht feuchte Augen zu bekommen.
„Rasend schnell“sei die Krankheit mächtig geworden. Von den Frühanzeichen bis jetzt habe es gerade mal gut fünf Jahre gedauert. Zum Schluss saß die Mutter, die in ihrer Heimat Niedersachsen wohnt und den letzten Lebensabschnitt in einem Pflegeheim in Holtland verbringt, scheinbar teilnahmslos im Heim. Ab und an und auf Zuruf des Pflegepersonals öffnete sie den Mund, um Flüssigkeit oder etwas zum Essen zu sich zu nehmen. Sie spricht nicht mehr. Und wohin die leeren Blicke der betagten Frau tatsächlich gehen, vermag niemand zu sagen. Etwa alle zwei Monate macht sich die Tochter für jeweils ein Wochenende auf den 900 Kilometer langen Weg von Günzburg nach Holtland. Vor gut einem Jahr hatte Ingrid Louwers eine selbst genähte Decke dabei – und reichte sie ihrer Mama, die die Tochter nicht immer erkennt. Dann geschah das kleine Wunder: Zehn Minuten hat es gedauert, bis die Mutter damit anfing, die Nesteldecke zu betasten. Sie beugte sich vor, nahm die Decke richtig in die Hand und beschäftigte sich insgesamt drei Stunden damit. Und als sie eine Kordel durch einen großen Ring zog, sprach sie plötzlich. Ein Wort. „Guck!“Die Begeisterung in dem Pflegeheim war so groß, dass Ingrid Louwers insgesamt 15 dieser therapeutischen Decken daließ – jede davon ein Unikat.
Was für das weit entfernte Heim in Niedersachsen gilt, soll auch für Pflege- und Altenheime im Landkreis Günzburg und in der Umge„Es bung möglich sein. „Wir wollen Menschen in die Welt holen, die ihnen noch möglich ist.“Damit sind besonders Demenzpatienten gemeint, die ihre geistigen Fähigkeiten beispielsweise mithilfe haptischer Reize anregen könnten: Etwas anfassen, es im Wortsinne begreifen.
Um mehr Mitstreiter zu gewinnen, hat sie „Herzensangelegenheiten 2017“gegründet. Der eingetragene Verein besteht bislang aus den sieben Gründungsmitgliedern „und noch ein bis zwei anderen, die Interesse haben“.
Aber das dürfte nicht reichen, um die ehrgeizigen Ziele des jungen Vereins zu erreichen. Louwers und Co. wollen weiterhin Nesteldecken herstellen, die sie an Pflegeheime zum Nulltarif abgeben. Dafür aber müssten sie erst umsonst an Materialien kommen – etwa Stoffreste, die in entsprechenden Läden abfallen. Von Spenden sowie den Ideen und der Arbeitskraft neuer Mitglieder sollen auch Angehörige dementer Menschen profitieren. „Wir wollen darüber informieren, was alles zu beachten ist, wenn die Demenz Einzug hält. Viele fallen in ein tiefes Loch und wissen nicht so recht weiter. Wir wollen den Betroffenen da raushelfen“, kündigt Louwers an.
Und falls die Mitgliederzahl deutlich anwachsen sollte, ist auch daran gedacht, auf Wunsch in die Heime zu kommen, um für demente Patienten etwas übrig zu haben, das in der Alltagswirklichkeit oft zu kurz kommt: Zeit und Zuwendung.
Das kann ein langer Weg zum Ziel werden, dessen ist sich Ingrid Louwers bewusst. Sie ist zuversichtlich, dass er zurückgelegt werden kann. Bisher verwandelt sich ihr Haus in Nornheim einmal im Monat in eine Nähstube für die Nesteldecken. Und die Mitglieder des Vereins treffen sich auch einmal im Monat – an jedem ersten Donnerstag. Sie kommen abends in einem Ulmer Hotel zusammen.
Warum nicht in Günzburg? Ingrid Louwers begründet das folgendermaßen: „Weil sich hier keine Gaststätte und kein Hotel gefunden haben, die bereit gewesen wären, uns einen Raum zu überlassen, ohne dass wir dafür Miete hätten zahlen müssen.“