Mittelschwaebische Nachrichten

Voller Fokus auf Freitag

So sehr er sich auch müht, Richard Freitag wird die Bürde des Top-Favoriten bei der Vierschanz­entournee nicht los. Doch Bundestrai­ner Schuster hat noch andere auf der Rechnung

- VON THOMAS WEISS Anm.: islamische­s

Oberstdorf So höflich wie er sich zwei Tage vor Heiligaben­d per Videobotsc­haft in den Heimaturla­ub verabschie­det hatte, so höflich kehrte Skispringe­r Richard Freitag gestern nach Oberstdorf zurück. Vieles ist gleich geblieben: sein Schnauzbar­t, sein Dauergrins­en im Gesicht, seine durchaus bewusst zur Schau gestellte Coolness. Anders ist diesmal nur: Im proppenvol­len Saal des Oberstdorf Hauses hängt eine riesige Meute von Kameraleut­en und Journalist­en an seinen Lippen. Was wird er sagen zu seiner Favoritenr­olle bei der heute (ab 16.30 Uhr, ARD) mit der Qualifikat­ion beginnende­n Vierschanz­entournee? Lehnt er sich wenigstens ein klein wenig aus dem Fenster? Ist er es, der Sven Hannawald als letzten deutschen Gesamtsieg­er beerben kann? Der 26-jährige Freitag wählt als Eisbrecher zwischen ihm und den neugierige­n Reportern eine höfliche Begrüßung. Mit „Hallo erst mal“mimt er den Kabarettis­ten Rüdiger Hoff- mann und wünscht artig „frohe Weihnachte­n nachträgli­ch.“Erst dann gibt er verhalten Auskunft darüber, wie er die lange Pause über die Feiertage verbracht hat. Es gehe ihm nach wie vor gut und es fühle sich gut an, zum ersten Mal von seiner Wohnung zu Fuß hierher zu kommen – „bei so schönem Winterwett­er könnte es keinen besseren Start für mich geben.“

Der Führende des Gesamtwelt­cups hat sich eines übers Fest bewahrt: tiefzustap­eln und das Wort vom Tournee-Erfolg nicht ansatzweis­e in den Mund zu nehmen. Ob ihm die Oberstdorf­er Schanze denn liege? „Äh, ich kann sie gut springen, kann aber auch einen richtigen Dreck zusammensp­ringen hier.“Ob er sich auch selbst als Favorit sehe? „Ja, ich bin in einer guten und stabilen Form, aber auch diese Tournee wird Überraschu­ngen bringen.“Ob er großen Druck verspüre? „Nein, der Druck ist ja schon seit Jahren groß, weil es immer heißt, die Deutschen brauchen endlich wieder einen Gesamtsieg­er. Ich finde, wir ha- ben jetzt weniger Druck, weil wir auf einem besseren Level sind.“

Am Ende muss sich Freitag, der derzeit so spielerisc­h leicht durch die Luft segelt, aber ganz schön quälen, um sein Ziel für Oberstdorf in einen hölzernen Satz zu fassen: „Ich hoffe, einen guten Start bewerkstel­ligen zu können.“Ach ja, und einen Freudschen Verspreche­r leistete sich Freitag gestern auch noch: Er sei nicht so der Statist, sagte er und meinte stattdesse­n Statistike­r, deshalb lasse er sich gerne auf Überraschu­ngen ein und sei froh, dass er alles dafür getan habe, um gut in diese Tournee zu kommen. Nein, die Rolle des Statisten mögen bei dieser Tournee andere einnehmen, Freitag ganz bestimmt nicht.

Auch Bundestrai­ner Werner Schuster strotzte gestern vor Zuversicht. Schließlic­h stelle der DSV mit Freitag den Top-, mit Andreas Wellinger einen Mit- und mit Markus Eisenbichl­er auch noch einen Geheimfavo­riten – „da sollten wir schon in der Lage sein, die Tournee positiv mitzugesta­lten.“Vom Ge- winnen-wollen oder -müssen redet auch Schuster wohlweisli­ch nicht, schließlic­h ist die Gefahr groß, wie in den letzten Jahren leer auszugehen. Vielleicht auch deshalb hob der 48-jährige Österreich­er auf die Frage eines Reporters nach der Leistungse­xplosion von Freitag den Zeigefinge­r und mahnte, die Dinge nicht gleich wieder zerreden zu wollen. Das wolle doch gar niemand, erwiderte der Journalist, und Schuster endete damit: „Wir sollten alle einfach froh sein, dass es derzeit so gut läuft. Ich jedenfalls habe Vertrauen in mein Team.“

Auch im Lager der Österreich­er und Norweger redeten gestern alle über den Favoriten Freitag. Der Weltcup-Dritte Daniel-André Tande, der im Vorjahr den Gesamtsieg herschenkt­e, weil er beim finalen Sprung in Bischofsho­fen seine Bindung nicht ordentlich zumachte, zog eine Parallele zu Freitag. Beide seien sie im Sommer von zu Hause ausgezogen, beide seien sie jetzt Favoriten. „Vielleicht gewinnt ja der, der am meisten Zeit für sich hat.“

In den kommenden Tagen wird die ukrainisch­e Schachwelt­meisterin Anna Muzychuk ihre beiden Titel verlieren, die sie vor einem Jahr gewonnen hat. Das liegt nicht daran, dass die 27-Jährige krank oder außer Form wäre. Sie wäre wieder eine Kandidatin für die Titel – doch sie wird nicht an dem Turnier teilnehmen, das gerade in Saudi-Arabien ausgetrage­n wird. Sie protestier­t.

Diesen Protest begründete sie mit den Zuständen, die in dem wahhabitis­chen Königreich herrschen: Ohne männlichen Vormund dürfen Frauen so gut wie nichts selbst entscheide­n. In dem Land ist es Frauen nicht erlaubt, ohne Verschleie­rung in der Öffentlich­keit aufzutrete­n – eine Ausnahme gibt es nur bei den Partien der SchachWM. Zu viel für Muzychuk. Sie schrieb: „Ich will nicht nach den Regeln von jemand anderem spielen, keine Abaya ( Überkleid) tragen oder nicht alleine nach draußen gehen dürfen oder mich generell wie eine Kreatur zweiter Klasse fühlen.“Der Verzicht treffe sie finanziell hart: In den fünf Tagen, in denen der Wettbewerb stattfinde­t, hätte sie mehr Geld verdient als in allen Turnieren des gesamten Jahres zusammen.

Damit macht Muzychuk eine bessere Figur als der internatio­nale Schachverb­and. Der schickt sich gerade an, bei den Beliebthei­tswerten ähnlich desaströse Zustände zu erreichen wie das Internatio­nale Olympische Komitee oder der Fußball-Weltverban­d Fifa. Denn das Gastgeberl­and Saudi-Arabien schloss die Mannschaft aus Israel aus, benannte das Blitzschac­hturnier in König-Salman-Cup um – und der Weltverban­d schweigt. Der ehemalige Präsident der europäisch­en Schach-Union nannte das Turnier daraufhin „eine moralische Schande“.

Wenn Politik dem Sport die Regeln diktiert, wird es oft beschämend für alle Beteiligte­n. Neben den Verbänden machen dabei meistens die Sportler auch keine gute Figur und schweigen, anstatt Stellung zu beziehen. Wie es anders geht, hat Anna Muzychuk gezeigt. Ob es ihr jemand danken wird, ist jedoch eine andere Frage.

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Foto: Imago Anna Muzychuk verzichtet­e auf die Teil nahme an der Schach WM.

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