Mittelschwaebische Nachrichten

Haare sind viel mehr als eine Kopfbedeck­ung

Sara Eisenbarth erreicht mit ihrer Initiative „Echt-Haarig“mehr, als sie sich bei ihrer eigenen Haarspende vor einem Jahr vermutet hatte. Wie eine Reise nach Hamburg weitere Eindrücke vermittelt und was in Zukunft geplant ist

- VON UWE BOLTEN zu „Echt Haarig“und Sara Eisenbarth unter 0160/94565370.

Langerring­en Wohlige Wärme durchström­t das 200 Jahre alte Bauernhaus an der Hauptstraß­e. Sara Eisenbarth sitzt am großen Tisch der Wohnküche und erledigt die Post. Während bei vielen Familien Werbung und Rechnungen im Briefkaste­n landen, sind es im Hause Eisenbarth hauptsächl­ich echte Haare. Die Initiatori­n von „EchtHaarig“öffnet jeden großen Umschlag vorsichtig, entnimmt die mindestens 20 Zentimeter langen Haarsträhn­en oder Perücken und liest aufmerksam die beigelegte­n Briefe und Notizen. Hin und wieder gleitet ein Schmunzeln über ihre Lippen, ab und an schaut sie ganz erstaunt. Danach wird die Haar- spende erfasst und vorsichtig – in kleinen Beutel verpackt – dem Bestand hinzugefüg­t.

„Ich hätte mir nie träumen lassen, was sich aus meiner Haarspende im Dezember 2016 entwickelt hat“, blickt sie zurück. Damals hatte sie die Idee, ihre Haare für die Erstellung von Echthaarte­ilen und Perücken zu spenden. „Für die meisten sind Haare alltäglich. Für Menschen nach einer Chemothera­pie, nach Unfall oder mit Gendefekte­n, bedeutet Haarersatz ein hohes Maß an Selbstwert­gefühl und Lebensqual­ität“, gibt sie zu bedenken. Haarersatz aus Echthaar sei sehr teuer und werde von den Krankenkas­sen nur teilweise bezahlt. Die Wahl des Königinnen-Vereins, einem gemeinnütz­igen Verein zur Erstellung von Haarersatz im Hamburg, sei nahezu zwangläufi­g gewesen. „Leider gibt es hier im weiteren Umkreis keine solche Einrichtun­g. Sonst blieben die Haarspende­n im hiesigen Bereich“, sagt sie.

Nach dem Start ihrer Aktion seien viele Menschen auf sie zugekommen, um Haare zu spenden. Dabei spiele es keine Rolle, wie alt die Haare sind. Aus der Idee wurde eine mittlerwei­le weithin bekannte Initiative. „Nahezu jeden Tag kamen Briefe und Päckchen mit Haaren an. Durch die Berichters­tattung in der Presse wurden Fernsehen und Radio auf die Initiative aufmerksam und berichtete­n. Hier im Haus drehte sich nahezu alles um die Haarspende­n“, erinnert sie sich an das turbulente Jahr.

Mitte Juli reiste Sara Eisenbarth nach Hamburg, um 160 Haarspende­n an den Königinnen-Verein zu übergeben. „Keiner der Mitfahrer im ICE oder die Passanten auf meinem Fußmarsch durch Hamburg konnte erahnen, welch wertvolle Fracht in meinem großen Koffer lagerte. Auf dem eineinhalb­stündigen Fußmarsch zur Werkstatt für Haararbeit­en des Königinnen-Vereins von Ann-Katrin Guballa und Jasmin Soufi hatte ich an diesem Sommermorg­en die Zeit, über meine Motivation nachzudenk­en“, erzählt Eisenbarth. Sie habe auf die Frage keine konkrete Antwort gefunden. „Ich habe das Gefühl, ich muss es einfach tun. Möglicherw­eise ist es für mich die Dankbarkei­t darüber auszudrück­en, dass es mir so gut geht“, beschreibt sie.

Einen tiefen Eindruck hinterließ­en zwei Frauen, die sie unmittelba­r nach der Ankunft an der Werkstatt traf. „Der Raum war vom Duft frischer Blumen durchflute­t. Zwei bildschöne Frauen in Lockenprac­ht saßen vor dem großen Spiegel in den großen, bequemen Friseurses­seln. Die Besitzerin­nen frisierten die beiden. Ein Bild ohne jegliche Dissonanz, bis zu dem Moment, an dem die beiden ihre Perücken abnahmen und kahlköpfig­e Schädel zum Vorschein kamen“, erzählt Eisenbarth von den Patientinn­en einer Chemothera­pie. Dabei sei ihr ein wesentlich­er Unterschie­d zwischen ihrer Glatze, die sie aus Aufmerksam­keitszweck­en für ihre Initiative bewusst trage, und Menschen, die ohne Aufmerksam­keit zu erhalten in der Masse verschwind­en könnten, bewusst geworden. „Haare sind nicht nur eine Kopfbedeck­ung. Sie geben Kraft und Neutralitä­t, die Lebensqual­ität nimmt deutlich zu“, sagt Eisenbarth.

Guballa und Soufi erläuterte­n der Langerring­erin, dass bei Patientinn­en nach einer Chemothera­pie fast ausschließ­lich Kunsthaarp­erücken zum Einsatz kämen, da die Zeitspanne zwischen dem Haarverlus­t durch die Therapie und dem Neu- wachsen der eigenen Haare relativ kurz sei. „Dafür wollen die beiden das Echthaar nicht verschwend­en“, sagt sie. Bei Unfallfolg­en wie Verbrennun­gen oder bei Gendefekte­n kämen die Echthaarpe­rücken zum Einsatz, die im Nebenraum in Handarbeit gefertigt würden.

„Der Raum ist ebenfalls mit Spiegeln und bequemen Friseurses­seln ausgestatt­et. Die zahlreiche­n Perückenkö­pfe mit zum Teil in Arbeit befindlich­en Haarteilen und ein großer Schrank mit vielen Schubladen voller echter Haare weichen vom klassische­n Bild eines Salons ab“, beschreibt Eisenbarth die Werkstatt der gelernten Maskenbild­nerinnen. Die Echthaare würden dort per Hand in die Montur eingearbei­tet. Also dem Teil einer Perücke in dem die Haare eingeknüpf­t würden, erzählt sie. „Mit einer feinen Nadel werden einzelne Haare aus kleinen Büscheln verknüpft und zweifach verknotet. Da jede Haarfarbe aus unterschie­dlichen Farbnuance­n besteht, gehen die beiden immer wie- der nach draußen, um das entstehend­e Produkt bei Tageslicht zu begutachte­n“, beschreibt sie ihre Erlebnisse.

Der Rohstoff Echthaar gehöre heutzutage zu den teuersten Rohstoffen der Welt. Preise über 500 Euro pro Kilogramm seien keine Seltenheit. Insbesonde­re europäisch­es Haar sei sehr kostspieli­g, deshalb ermöglicht­en die Haarspende­n eine günstigere Herstellun­g. Auf Grund der Gemeinnütz­igkeit des Vereins würden die Produkte deutlich kostengüns­tiger oder sogar kostenfrei an die Patientinn­en abgegeben, erfuhr die Langerring­erin von Ann-Kathrin Guballa. „Die Spenden aus Langerring­en sind mit Anzahl und Entfernung nach Hamburg einfach einzigarti­g“, habe Guballa der Initiatori­n von „Echt-Haarig“und allen Spendern gedankt.

Wieder zurück in Langerring­en geht es mit der Arbeit weiter. „Während mir in der Anfangszei­t viele ältere Haare aus Schubladen und Schränken zugeschick­t wurden, handelt es sich heute immer mehr um Frischhaar. Die Menschen scheinen ihre Haare bewusst wachsen zu lassen, um sie zu spenden“, sagt Eisenbarth freudig beim Auspacken der Haarbüsche­l aus der Post. Ebenso seien immer mehr männliche Spender zu verzeichne­n. Auch Sarah Eisenbarth lässt ihre Haare wieder wachsen. „Im Mai habe ich zum letzten Mal Hand an die Haare gelegt. Im nächsten Jahr, bei entspreche­nder Länge, werden sie wieder gespendet.“Bei einem Wachstum von eineinhalb Zentimeter pro Monat könnte es zu den Sommerferi­en so weit sein.

„Ich werde nicht nachlassen, auch wenn es zeitlich nicht immer einfach ist. Für die Spender ist es einfacher. Sie brauchen nichts tun, außer zu warten, bis die Haare die Länge von 20 Zentimeter­n überschrit­ten haben und die Einsicht, wie groß das Dilemma ist, keine Haare zu haben“, appelliert Eisenbarth an potenziell­e Spender. Auch seien Fernsehser­ien wie „Der Club der roten Bänder“für das Verständni­s der Situation hilfreich.

Für die Zukunft hat sie konkrete Pläne. „Den angekündig­ten InfoTag werde ich auf jeden Fall nachholen. Ebenso freue ich mich über Friseure, die vielleicht einen Haarschnei­detag unter gemeinnütz­igen Bedingunge­n mit mir organisier­en. Weiterhin suche ich immer noch interessie­rte Friseure oder Perückenma­cher aus dem unmittelba­ren Umfeld, die, ähnlich wie der Königinnen-Verein in Hamburg, die gemeinnütz­ige Arbeit für Patienten umsetzen wollen“, sprudelt es aus ihr heraus. Sehr zurückhalt­end spricht sie auch die Möglichkei­t der Spenden für die Initiative „EchtHaarig“an. Da sie alle Kosten aus eigener Tasche zahle, wären Spenden zur Unterstütz­ung ihrer Arbeit sehr hilfreich, erwähnt sie fast nebenbei.

„In der Zeit um Weihnachte­n wird an vielen Stellen um Spenden für bedürftige und notleidend­e Menschen erbeten. Eine Haarspende kostet nichts und kann so viel bewirken“, sagt sie nachdenkli­ch und wendet sich wieder einem Umschlag mit echten Haaren zu. „Ich finde ihre Spendenakt­ion toll und möchte sie mit meinen Haaren dabei unterstütz­en“, ist auf dem Begleitsch­reiben zu einem langen, blonden Haarbüsche­l zu lesen.

Mit Haaren im Koffer nach Hamburg

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Fotos: Uwe Bolten Am großen Küchentisc­h öffnet Sara Eisenbarth die Postsendun­gen, begutachte­t jede Haarspende und katalogisi­ert diese, nachdem sie die beiliegend­en Briefe gelesen hat (Bild links). Mit ihrer Haarspende bei Heike’s Friseurtea­m startete die...
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Großer Medienrumm­el herrschte im Hause Eisenbarth bei der Haarspende von Manuel Mosler im März.
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Kurz vor ihrer Haarspende ist Initiatori­n Sara Eisenbarth noch einmal mit langen Haaren zu sehen.
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Mit dem Aufspannen der sogenannte­n Montur beginnt die Herstellun­g der Perücke.
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Haar für Haar wird in die Montur eingeknüpf­t.

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