Mittelschwaebische Nachrichten
Haare sind viel mehr als eine Kopfbedeckung
Sara Eisenbarth erreicht mit ihrer Initiative „Echt-Haarig“mehr, als sie sich bei ihrer eigenen Haarspende vor einem Jahr vermutet hatte. Wie eine Reise nach Hamburg weitere Eindrücke vermittelt und was in Zukunft geplant ist
Langerringen Wohlige Wärme durchströmt das 200 Jahre alte Bauernhaus an der Hauptstraße. Sara Eisenbarth sitzt am großen Tisch der Wohnküche und erledigt die Post. Während bei vielen Familien Werbung und Rechnungen im Briefkasten landen, sind es im Hause Eisenbarth hauptsächlich echte Haare. Die Initiatorin von „EchtHaarig“öffnet jeden großen Umschlag vorsichtig, entnimmt die mindestens 20 Zentimeter langen Haarsträhnen oder Perücken und liest aufmerksam die beigelegten Briefe und Notizen. Hin und wieder gleitet ein Schmunzeln über ihre Lippen, ab und an schaut sie ganz erstaunt. Danach wird die Haar- spende erfasst und vorsichtig – in kleinen Beutel verpackt – dem Bestand hinzugefügt.
„Ich hätte mir nie träumen lassen, was sich aus meiner Haarspende im Dezember 2016 entwickelt hat“, blickt sie zurück. Damals hatte sie die Idee, ihre Haare für die Erstellung von Echthaarteilen und Perücken zu spenden. „Für die meisten sind Haare alltäglich. Für Menschen nach einer Chemotherapie, nach Unfall oder mit Gendefekten, bedeutet Haarersatz ein hohes Maß an Selbstwertgefühl und Lebensqualität“, gibt sie zu bedenken. Haarersatz aus Echthaar sei sehr teuer und werde von den Krankenkassen nur teilweise bezahlt. Die Wahl des Königinnen-Vereins, einem gemeinnützigen Verein zur Erstellung von Haarersatz im Hamburg, sei nahezu zwangläufig gewesen. „Leider gibt es hier im weiteren Umkreis keine solche Einrichtung. Sonst blieben die Haarspenden im hiesigen Bereich“, sagt sie.
Nach dem Start ihrer Aktion seien viele Menschen auf sie zugekommen, um Haare zu spenden. Dabei spiele es keine Rolle, wie alt die Haare sind. Aus der Idee wurde eine mittlerweile weithin bekannte Initiative. „Nahezu jeden Tag kamen Briefe und Päckchen mit Haaren an. Durch die Berichterstattung in der Presse wurden Fernsehen und Radio auf die Initiative aufmerksam und berichteten. Hier im Haus drehte sich nahezu alles um die Haarspenden“, erinnert sie sich an das turbulente Jahr.
Mitte Juli reiste Sara Eisenbarth nach Hamburg, um 160 Haarspenden an den Königinnen-Verein zu übergeben. „Keiner der Mitfahrer im ICE oder die Passanten auf meinem Fußmarsch durch Hamburg konnte erahnen, welch wertvolle Fracht in meinem großen Koffer lagerte. Auf dem eineinhalbstündigen Fußmarsch zur Werkstatt für Haararbeiten des Königinnen-Vereins von Ann-Katrin Guballa und Jasmin Soufi hatte ich an diesem Sommermorgen die Zeit, über meine Motivation nachzudenken“, erzählt Eisenbarth. Sie habe auf die Frage keine konkrete Antwort gefunden. „Ich habe das Gefühl, ich muss es einfach tun. Möglicherweise ist es für mich die Dankbarkeit darüber auszudrücken, dass es mir so gut geht“, beschreibt sie.
Einen tiefen Eindruck hinterließen zwei Frauen, die sie unmittelbar nach der Ankunft an der Werkstatt traf. „Der Raum war vom Duft frischer Blumen durchflutet. Zwei bildschöne Frauen in Lockenpracht saßen vor dem großen Spiegel in den großen, bequemen Friseursesseln. Die Besitzerinnen frisierten die beiden. Ein Bild ohne jegliche Dissonanz, bis zu dem Moment, an dem die beiden ihre Perücken abnahmen und kahlköpfige Schädel zum Vorschein kamen“, erzählt Eisenbarth von den Patientinnen einer Chemotherapie. Dabei sei ihr ein wesentlicher Unterschied zwischen ihrer Glatze, die sie aus Aufmerksamkeitszwecken für ihre Initiative bewusst trage, und Menschen, die ohne Aufmerksamkeit zu erhalten in der Masse verschwinden könnten, bewusst geworden. „Haare sind nicht nur eine Kopfbedeckung. Sie geben Kraft und Neutralität, die Lebensqualität nimmt deutlich zu“, sagt Eisenbarth.
Guballa und Soufi erläuterten der Langerringerin, dass bei Patientinnen nach einer Chemotherapie fast ausschließlich Kunsthaarperücken zum Einsatz kämen, da die Zeitspanne zwischen dem Haarverlust durch die Therapie und dem Neu- wachsen der eigenen Haare relativ kurz sei. „Dafür wollen die beiden das Echthaar nicht verschwenden“, sagt sie. Bei Unfallfolgen wie Verbrennungen oder bei Gendefekten kämen die Echthaarperücken zum Einsatz, die im Nebenraum in Handarbeit gefertigt würden.
„Der Raum ist ebenfalls mit Spiegeln und bequemen Friseursesseln ausgestattet. Die zahlreichen Perückenköpfe mit zum Teil in Arbeit befindlichen Haarteilen und ein großer Schrank mit vielen Schubladen voller echter Haare weichen vom klassischen Bild eines Salons ab“, beschreibt Eisenbarth die Werkstatt der gelernten Maskenbildnerinnen. Die Echthaare würden dort per Hand in die Montur eingearbeitet. Also dem Teil einer Perücke in dem die Haare eingeknüpft würden, erzählt sie. „Mit einer feinen Nadel werden einzelne Haare aus kleinen Büscheln verknüpft und zweifach verknotet. Da jede Haarfarbe aus unterschiedlichen Farbnuancen besteht, gehen die beiden immer wie- der nach draußen, um das entstehende Produkt bei Tageslicht zu begutachten“, beschreibt sie ihre Erlebnisse.
Der Rohstoff Echthaar gehöre heutzutage zu den teuersten Rohstoffen der Welt. Preise über 500 Euro pro Kilogramm seien keine Seltenheit. Insbesondere europäisches Haar sei sehr kostspielig, deshalb ermöglichten die Haarspenden eine günstigere Herstellung. Auf Grund der Gemeinnützigkeit des Vereins würden die Produkte deutlich kostengünstiger oder sogar kostenfrei an die Patientinnen abgegeben, erfuhr die Langerringerin von Ann-Kathrin Guballa. „Die Spenden aus Langerringen sind mit Anzahl und Entfernung nach Hamburg einfach einzigartig“, habe Guballa der Initiatorin von „Echt-Haarig“und allen Spendern gedankt.
Wieder zurück in Langerringen geht es mit der Arbeit weiter. „Während mir in der Anfangszeit viele ältere Haare aus Schubladen und Schränken zugeschickt wurden, handelt es sich heute immer mehr um Frischhaar. Die Menschen scheinen ihre Haare bewusst wachsen zu lassen, um sie zu spenden“, sagt Eisenbarth freudig beim Auspacken der Haarbüschel aus der Post. Ebenso seien immer mehr männliche Spender zu verzeichnen. Auch Sarah Eisenbarth lässt ihre Haare wieder wachsen. „Im Mai habe ich zum letzten Mal Hand an die Haare gelegt. Im nächsten Jahr, bei entsprechender Länge, werden sie wieder gespendet.“Bei einem Wachstum von eineinhalb Zentimeter pro Monat könnte es zu den Sommerferien so weit sein.
„Ich werde nicht nachlassen, auch wenn es zeitlich nicht immer einfach ist. Für die Spender ist es einfacher. Sie brauchen nichts tun, außer zu warten, bis die Haare die Länge von 20 Zentimetern überschritten haben und die Einsicht, wie groß das Dilemma ist, keine Haare zu haben“, appelliert Eisenbarth an potenzielle Spender. Auch seien Fernsehserien wie „Der Club der roten Bänder“für das Verständnis der Situation hilfreich.
Für die Zukunft hat sie konkrete Pläne. „Den angekündigten InfoTag werde ich auf jeden Fall nachholen. Ebenso freue ich mich über Friseure, die vielleicht einen Haarschneidetag unter gemeinnützigen Bedingungen mit mir organisieren. Weiterhin suche ich immer noch interessierte Friseure oder Perückenmacher aus dem unmittelbaren Umfeld, die, ähnlich wie der Königinnen-Verein in Hamburg, die gemeinnützige Arbeit für Patienten umsetzen wollen“, sprudelt es aus ihr heraus. Sehr zurückhaltend spricht sie auch die Möglichkeit der Spenden für die Initiative „EchtHaarig“an. Da sie alle Kosten aus eigener Tasche zahle, wären Spenden zur Unterstützung ihrer Arbeit sehr hilfreich, erwähnt sie fast nebenbei.
„In der Zeit um Weihnachten wird an vielen Stellen um Spenden für bedürftige und notleidende Menschen erbeten. Eine Haarspende kostet nichts und kann so viel bewirken“, sagt sie nachdenklich und wendet sich wieder einem Umschlag mit echten Haaren zu. „Ich finde ihre Spendenaktion toll und möchte sie mit meinen Haaren dabei unterstützen“, ist auf dem Begleitschreiben zu einem langen, blonden Haarbüschel zu lesen.
Mit Haaren im Koffer nach Hamburg