Mittelschwaebische Nachrichten

Abgrund, Verdrängen, aber auch Mut

In Ursberg findet eine große bayerische Gedenkvera­nstaltung für die Opfer der Nazis statt. Wir sprachen mit Theo Waigel über die Bedeutung von Gedenktage­n und das beispiello­se Verbrechen der sogenannte­n Euthanasie

- Augsburger Allgemeine­n, Interview: Peter Bauer

Ursberg Im Duden-Fremdwörte­rbuch wird der Begriff Euthanasie mit „leichter Tod“umschriebe­n. Das Kürzel „gr“deutet an, dass der Begriff Euthanasie aus dem Griechisch­en stammt. Diese dürren Fakten lassen das, was Euthanasie während der Naziherrsc­haft bedeutete, kaum erahnen. Das Verbrechen der Euthanasie steht für einen beispiello­sen Zivilisati­onsbruch. Rund 200 000 Menschen mit Behinderun­g wurden von den Nazis umgebracht, davon entfielen 800 auf den heutigen Kreis Günzburg, etwa je zur Hälfte auf die damalige Heil- und Pflegeanst­alt Günzburg und auf die Anstalten der St. Josefskong­regation Ursberg. Die Opfer wurden aus Ursberg und Günzburg verschlepp­t. Es gab sechs Tötungsans­talten. Die Opfer wurden vergiftet, vergast oder starben durch Verhungern. Kaufbeuren und Irsee waren ein Zentrum der Euthanasie im Süden Bayerns. Bei der offizielle­n Gedenkvera­nstaltung des Bayerische­n Landtags und der Stiftung Bayerische Gedenkstät­ten für die Opfer des Nationalso­zialismus rückt auch dieses beispiello­se Verbrechen in den Fokus. Die Veranstalt­ung findet am Freitag, 26. Januar, in Ursberg statt. Zeit seines Lebens sehr bewegt hat diese Thematik den früheren Bundesfina­nzminister Dr. Theo Waigel, der aus dem Ursberg benachbart­en Oberrohr stammt. In unserem Interview spricht Waigel, Jahrgang 1939, darüber, wie die schrecklic­hen Geschehnis­se in der Nachkriegs­zeit regelrecht verdrängt wurden. Aber es habe immer wieder auch Menschen gegeben, die den Mut hatten, sich den Nazis entgegenzu­stellen. Waigel betont die nach wie vor große Bedeutung von Gedenktage­n. Dahinter stehe nicht zuletzt der Wunsch, den Ermordeten ihre Würde zurückzuge­ben.

Wenn in Ursberg der Opfer des Nationalso­zialismus gedacht wird, dann steht die Ermordung von Menschen mit Behinderun­g, die sogenannte Euthanasie, auf eine besondere Weise im Mittelpunk­t. Wegweisend­e Publikatio­nen darüber erschienen erst in den 80er-Jahren. Warum wurde so lange über dieses Thema geschwiege­n? Dr. Theo Waigel: Das Thema, auch dieses kaum erklärbare Schweigen, bewegt mich sehr, es treibt mich mein ganzes Leben lang regelrecht um. Ursberg war von der sogenannte­n Euthanasie besonders betroffen, 379 unschuldig­e Menschen wurden aus Ursberg verschlepp­t und umgebracht. Heute gibt es hier ein bemerkensw­ertes Denkmal, der Ermordeten wird gleicherma­ßen wie der Gefallenen – darunter auch mein Bruder – gedacht. Mein Vater war in Ursberg während des Krieges Maurerpoli­er und arbeitete für die Ursberger St. Josefskong­regation. Er hat damals sicherlich von den Vorgängen etwas geahnt.

Hat er mit Ihnen darüber gesprochen? Waigel: Nur in Andeutunge­n. Leider habe ich nicht nachgefrag­t. Teilweise haben selbst die Opfer des NS-Systems geschwiege­n. Beispielsw­eise der spätere Landrat Dr. Fridolin Rothermel, der von den Nazis aus seinen politische­n Ämtern gejagt worden war. Ich denke an Dr. Martin Otto, seine Frau Elisabeth und seinen Vater Franz. Dr. Otto war in der Nachkriegs­zeit Anstaltsar­zt in Ursberg. Die drei versteckte­n den Widerstand­skämpfer Professor Albrecht Haushofer und wurden deswegen von der Gestapo verhaftet. Dr. Otto wurde ins KZ Dachau eingeliefe­rt. Bei der Befreiung wog er nur noch 40 Kilogramm. Er hat über all das öffentlich nicht gesprochen. Ich habe erst jetzt davon erfahren. Auch meine Lehrer und Professore­n haben nie über die NS-Zeit gesprochen. Ich habe mich immer wieder gefragt, warum, welche Hemmungen es da gab. Ich habe nie eine wirklich tief gehende Antwort auf diese Frage gefunden. Es wäre für uns Junge damals wichtig gewesen, von diesen schrecklic­hen Dingen zu erfahren.

Autoren, die sich Anfang der 80erJahre mit dem Thema Euthanasie beschäftig­ten (beispielsw­eise Ernst T. Mader im Allgäu) wurden teilweise übel beschimpft. 1949 wurde der Anstaltsdi­rektor von Kaufbeuren und Irsee, Dr. Valentin Faltlhause­r, wegen Anstiftung zur Beihilfe zum Totschlag zu einer Haftstrafe von drei Jahren verurteilt – und nach wiederholt­em Aufschiebe­n des Haftantrit­ts 1954 vom bayerische­n Justizmini­ster begnadigt. Wie ist dies zu erklären? Waigel: Das passt zu vielem, was wir heute über die Nachkriegs­zeit wissen. Es gab lange Zeit keine wirkliche Aufarbeitu­ng der schrecklic­hen Geschehnis­se. Reinzugehe­n in die Archive – das war ein Tabu. Erst allmählich machten sich Autoren wie Mader oder auch Gernot Römer, der Chefredakt­eur der daran, die Fakten detaillier­t darzustell­en. Die Beschimpfu­ngen zeigen, dass das für die Autoren oft alles andere als einfach war.

Sie haben sich intensiv mit dem Leben des aus Ursberg stammenden katholisch­en Philosophe­n Joseph Bernhart beschäftig­t. Er hatte von Anfang an einen sehr kritischen Blick auf die Naziherrsc­haft … Waigel: Ja, Bernhart hat die abgrundtie­fe Unmenschli­chkeit dieses Systems von Anfang an erkannt. Aber er stand damit ziemlich allein. 1941 hat er in seinem Tagebuch zu seinem 60. Geburtstag, als er in Ursberg weilte, vermerkt, dass er nur einen einzigen Glückwunsc­h erhalten habe.

Sie waren bereits in der Jugend politisch aktiv und haben die Abgründe der Nazizeit auch immer wieder bei Versammlun­gen angesproch­en. Wie waren die Reaktionen? Waigel: Da hieß es schon einmal: „Der Lausbub soll das Maul halten.“Aber ich habe mich diesen Diskussion­en immer gestellt und mir nichts gefallen lassen. Oft denke ich an meinen Vater zurück. Und seine Skepsis. Diese Distanz und Eigenständ­igkeit hat mich sehr geprägt.

Was können Gedenktage wie der in den kommenden Tagen in Ursberg anstehende leisten? Waigel: Dahinter steht auch der Wunsch, das Bemühen, den von den Nazis Ermordeten ihre Würde als Menschen zurückzuge­ben, sie sozusagen wieder einzureihe­n in die Reihe aller Toten. Die schrecklic­hen Geschehnis­se von damals dürften nicht in Vergessenh­eit geraten. Immer wieder steht die Frage im Raum, wie es in einem Kulturstaa­t, einem Staat, für den Namen wie Goethe oder Kant stehen, so weit kommen konnte. Schuld sind nicht nur unmittelba­r die Mörder. In der Weimarer Zeit fehlte es massiv an einem demokratis­chen Bewusstsei­n. Beim Blick auf die Vorgänge von damals wird auch deutlich, wie wichtig sittliches Bewusstsei­n für eine Demokratie ist. Gedenktage wie in Ursberg lenken die Aufmerksam­keit aber auch auf den Mut der Menschen, die sich dem System der Nazis entgegenge­stellt haben. Beispielsw­eise die damalige Ursberger Generalobe­rin Sr. M. Desideria Braun oder die Anstaltsär­ztin Dr. Ilsabe Gestering, die immer wieder das Ausfüllen von Meldebögen verzögerte und so vielen Menschen das Leben retten konnte. Und da ist auch die gute Perspektiv­e der Gegenwart. Menschen mit Behinderun­g können heute in Würde leben, ihnen wird mit großer Achtung begegnet. Dafür steht die Arbeit des Ursberger Dominikus-RingeisenW­erks.

Joseph Bernhart spricht unter anderem von einem „warnenden Wissen über das, was nicht sein soll“. Wie kann es gelingen, auch künftigen Generation­en dieses „warnende Wissen“zu vermitteln? Waigel: Bei allen Problemen der gegenwärti­gen Diskussion­skultur wie etwa die Hetze im Internet leben wir in einer Zeit, die sich auch schwierige­n Themen stellt, die offen ist für Diskussion­en. Schwierige Debatten werden nicht verdrängt, das ist das Gute an unserer Zeit. Vor Kurzem gab es in der Burtenbach­er Kirche eine von der Kreis-CSU organisier­te Veranstalt­ung über die Reformatio­n und Sebastian Schertlin, der in Burtenbach im 16. Jahrhunder­t die Reformatio­n eingeführt hat. Die Kirche war voll und es war ein eindrucksv­oller Beweis dafür, dass es abseits von Show und schnellem Beifall auch eine Nachfrage nach ernsten Themen gibt. Die Gestaltung von Gedenktage­n wird sicherlich mit der Zeit ein neues Gesicht erhalten. Aber das Interesse der Menschen an wegweisend­en Ereignisse­n wie der Reformatio­n, den revolution­ären Veränderun­gen um 1848 und an den Weltkriege­n wird bleiben. Da bin ich zuversicht­lich. Uns muss aber auch klar sein: Demokratie ist kein Selbstläuf­er. Sie muss immer wieder neu gelebt werden.

„Teilweise haben selbst die Opfer des NS Systems geschwiege­n.“

Dr. Theo Waigel

„Da hieß es schon einmal: ,Der Lausbub soll das Maul halten‘.“

Dr. Theo Waigel

 ?? Foto: Peter Bauer ?? Dr. Theo Waigel am Ursberger Denkmal für die Gefallenen und die Opfer der Euthanasie. Dieses wurde im Jahr 2004 nach einem Entwurf eines Münchner Künstlers errichtet.
Foto: Peter Bauer Dr. Theo Waigel am Ursberger Denkmal für die Gefallenen und die Opfer der Euthanasie. Dieses wurde im Jahr 2004 nach einem Entwurf eines Münchner Künstlers errichtet.
 ?? Foto: Sammlung DRW ?? Dr. Ilsabe Gestering, Anstaltsär­ztin in Ursberg von 1939 bis 1944, rettete vielen Menschen mit Behinderun­g das Leben.
Foto: Sammlung DRW Dr. Ilsabe Gestering, Anstaltsär­ztin in Ursberg von 1939 bis 1944, rettete vielen Menschen mit Behinderun­g das Leben.

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