Mittelschwaebische Nachrichten
Abgrund, Verdrängen, aber auch Mut
In Ursberg findet eine große bayerische Gedenkveranstaltung für die Opfer der Nazis statt. Wir sprachen mit Theo Waigel über die Bedeutung von Gedenktagen und das beispiellose Verbrechen der sogenannten Euthanasie
Ursberg Im Duden-Fremdwörterbuch wird der Begriff Euthanasie mit „leichter Tod“umschrieben. Das Kürzel „gr“deutet an, dass der Begriff Euthanasie aus dem Griechischen stammt. Diese dürren Fakten lassen das, was Euthanasie während der Naziherrschaft bedeutete, kaum erahnen. Das Verbrechen der Euthanasie steht für einen beispiellosen Zivilisationsbruch. Rund 200 000 Menschen mit Behinderung wurden von den Nazis umgebracht, davon entfielen 800 auf den heutigen Kreis Günzburg, etwa je zur Hälfte auf die damalige Heil- und Pflegeanstalt Günzburg und auf die Anstalten der St. Josefskongregation Ursberg. Die Opfer wurden aus Ursberg und Günzburg verschleppt. Es gab sechs Tötungsanstalten. Die Opfer wurden vergiftet, vergast oder starben durch Verhungern. Kaufbeuren und Irsee waren ein Zentrum der Euthanasie im Süden Bayerns. Bei der offiziellen Gedenkveranstaltung des Bayerischen Landtags und der Stiftung Bayerische Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus rückt auch dieses beispiellose Verbrechen in den Fokus. Die Veranstaltung findet am Freitag, 26. Januar, in Ursberg statt. Zeit seines Lebens sehr bewegt hat diese Thematik den früheren Bundesfinanzminister Dr. Theo Waigel, der aus dem Ursberg benachbarten Oberrohr stammt. In unserem Interview spricht Waigel, Jahrgang 1939, darüber, wie die schrecklichen Geschehnisse in der Nachkriegszeit regelrecht verdrängt wurden. Aber es habe immer wieder auch Menschen gegeben, die den Mut hatten, sich den Nazis entgegenzustellen. Waigel betont die nach wie vor große Bedeutung von Gedenktagen. Dahinter stehe nicht zuletzt der Wunsch, den Ermordeten ihre Würde zurückzugeben.
Wenn in Ursberg der Opfer des Nationalsozialismus gedacht wird, dann steht die Ermordung von Menschen mit Behinderung, die sogenannte Euthanasie, auf eine besondere Weise im Mittelpunkt. Wegweisende Publikationen darüber erschienen erst in den 80er-Jahren. Warum wurde so lange über dieses Thema geschwiegen? Dr. Theo Waigel: Das Thema, auch dieses kaum erklärbare Schweigen, bewegt mich sehr, es treibt mich mein ganzes Leben lang regelrecht um. Ursberg war von der sogenannten Euthanasie besonders betroffen, 379 unschuldige Menschen wurden aus Ursberg verschleppt und umgebracht. Heute gibt es hier ein bemerkenswertes Denkmal, der Ermordeten wird gleichermaßen wie der Gefallenen – darunter auch mein Bruder – gedacht. Mein Vater war in Ursberg während des Krieges Maurerpolier und arbeitete für die Ursberger St. Josefskongregation. Er hat damals sicherlich von den Vorgängen etwas geahnt.
Hat er mit Ihnen darüber gesprochen? Waigel: Nur in Andeutungen. Leider habe ich nicht nachgefragt. Teilweise haben selbst die Opfer des NS-Systems geschwiegen. Beispielsweise der spätere Landrat Dr. Fridolin Rothermel, der von den Nazis aus seinen politischen Ämtern gejagt worden war. Ich denke an Dr. Martin Otto, seine Frau Elisabeth und seinen Vater Franz. Dr. Otto war in der Nachkriegszeit Anstaltsarzt in Ursberg. Die drei versteckten den Widerstandskämpfer Professor Albrecht Haushofer und wurden deswegen von der Gestapo verhaftet. Dr. Otto wurde ins KZ Dachau eingeliefert. Bei der Befreiung wog er nur noch 40 Kilogramm. Er hat über all das öffentlich nicht gesprochen. Ich habe erst jetzt davon erfahren. Auch meine Lehrer und Professoren haben nie über die NS-Zeit gesprochen. Ich habe mich immer wieder gefragt, warum, welche Hemmungen es da gab. Ich habe nie eine wirklich tief gehende Antwort auf diese Frage gefunden. Es wäre für uns Junge damals wichtig gewesen, von diesen schrecklichen Dingen zu erfahren.
Autoren, die sich Anfang der 80erJahre mit dem Thema Euthanasie beschäftigten (beispielsweise Ernst T. Mader im Allgäu) wurden teilweise übel beschimpft. 1949 wurde der Anstaltsdirektor von Kaufbeuren und Irsee, Dr. Valentin Faltlhauser, wegen Anstiftung zur Beihilfe zum Totschlag zu einer Haftstrafe von drei Jahren verurteilt – und nach wiederholtem Aufschieben des Haftantritts 1954 vom bayerischen Justizminister begnadigt. Wie ist dies zu erklären? Waigel: Das passt zu vielem, was wir heute über die Nachkriegszeit wissen. Es gab lange Zeit keine wirkliche Aufarbeitung der schrecklichen Geschehnisse. Reinzugehen in die Archive – das war ein Tabu. Erst allmählich machten sich Autoren wie Mader oder auch Gernot Römer, der Chefredakteur der daran, die Fakten detailliert darzustellen. Die Beschimpfungen zeigen, dass das für die Autoren oft alles andere als einfach war.
Sie haben sich intensiv mit dem Leben des aus Ursberg stammenden katholischen Philosophen Joseph Bernhart beschäftigt. Er hatte von Anfang an einen sehr kritischen Blick auf die Naziherrschaft … Waigel: Ja, Bernhart hat die abgrundtiefe Unmenschlichkeit dieses Systems von Anfang an erkannt. Aber er stand damit ziemlich allein. 1941 hat er in seinem Tagebuch zu seinem 60. Geburtstag, als er in Ursberg weilte, vermerkt, dass er nur einen einzigen Glückwunsch erhalten habe.
Sie waren bereits in der Jugend politisch aktiv und haben die Abgründe der Nazizeit auch immer wieder bei Versammlungen angesprochen. Wie waren die Reaktionen? Waigel: Da hieß es schon einmal: „Der Lausbub soll das Maul halten.“Aber ich habe mich diesen Diskussionen immer gestellt und mir nichts gefallen lassen. Oft denke ich an meinen Vater zurück. Und seine Skepsis. Diese Distanz und Eigenständigkeit hat mich sehr geprägt.
Was können Gedenktage wie der in den kommenden Tagen in Ursberg anstehende leisten? Waigel: Dahinter steht auch der Wunsch, das Bemühen, den von den Nazis Ermordeten ihre Würde als Menschen zurückzugeben, sie sozusagen wieder einzureihen in die Reihe aller Toten. Die schrecklichen Geschehnisse von damals dürften nicht in Vergessenheit geraten. Immer wieder steht die Frage im Raum, wie es in einem Kulturstaat, einem Staat, für den Namen wie Goethe oder Kant stehen, so weit kommen konnte. Schuld sind nicht nur unmittelbar die Mörder. In der Weimarer Zeit fehlte es massiv an einem demokratischen Bewusstsein. Beim Blick auf die Vorgänge von damals wird auch deutlich, wie wichtig sittliches Bewusstsein für eine Demokratie ist. Gedenktage wie in Ursberg lenken die Aufmerksamkeit aber auch auf den Mut der Menschen, die sich dem System der Nazis entgegengestellt haben. Beispielsweise die damalige Ursberger Generaloberin Sr. M. Desideria Braun oder die Anstaltsärztin Dr. Ilsabe Gestering, die immer wieder das Ausfüllen von Meldebögen verzögerte und so vielen Menschen das Leben retten konnte. Und da ist auch die gute Perspektive der Gegenwart. Menschen mit Behinderung können heute in Würde leben, ihnen wird mit großer Achtung begegnet. Dafür steht die Arbeit des Ursberger Dominikus-RingeisenWerks.
Joseph Bernhart spricht unter anderem von einem „warnenden Wissen über das, was nicht sein soll“. Wie kann es gelingen, auch künftigen Generationen dieses „warnende Wissen“zu vermitteln? Waigel: Bei allen Problemen der gegenwärtigen Diskussionskultur wie etwa die Hetze im Internet leben wir in einer Zeit, die sich auch schwierigen Themen stellt, die offen ist für Diskussionen. Schwierige Debatten werden nicht verdrängt, das ist das Gute an unserer Zeit. Vor Kurzem gab es in der Burtenbacher Kirche eine von der Kreis-CSU organisierte Veranstaltung über die Reformation und Sebastian Schertlin, der in Burtenbach im 16. Jahrhundert die Reformation eingeführt hat. Die Kirche war voll und es war ein eindrucksvoller Beweis dafür, dass es abseits von Show und schnellem Beifall auch eine Nachfrage nach ernsten Themen gibt. Die Gestaltung von Gedenktagen wird sicherlich mit der Zeit ein neues Gesicht erhalten. Aber das Interesse der Menschen an wegweisenden Ereignissen wie der Reformation, den revolutionären Veränderungen um 1848 und an den Weltkriegen wird bleiben. Da bin ich zuversichtlich. Uns muss aber auch klar sein: Demokratie ist kein Selbstläufer. Sie muss immer wieder neu gelebt werden.
„Teilweise haben selbst die Opfer des NS Systems geschwiegen.“
Dr. Theo Waigel
„Da hieß es schon einmal: ,Der Lausbub soll das Maul halten‘.“
Dr. Theo Waigel