Mittelschwaebische Nachrichten

Die Kinder sind noch im Krieg

Der Mann im sicheren Deutschlan­d, die Angehörige­n im Krisengebi­et. Für viele Flüchtling­e ist das die bittere Realität. Ein Leben zwischen Hoffen und Angst. Jetzt gibt es einen Bundestags­beschluss, der den Familienna­chzug neu regelt – und viele Menschen ve

- VON STEPHANIE SARTOR

Lauingen Vier Ziffern. 2651. Vier Ziffern, die nicht nur eine Zahl sind, sondern für ein Schicksal stehen. 2651 Kilometer Luftlinie liegen zwischen Homs und Lauingen. Zwischen Krieg und Frieden. Zwischen Aiman Musa und seiner Familie.

Der 45-Jährige steht in der Küche mit der grünen Wand. Weißer Zucker rieselt in ein Glas. Aiman Musa gießt dampfenden schwarzen Tee darauf, rührt um, nimmt einen Schluck. Dann geht er ins Wohnzimmer, setzt sich an den großen Holztisch, stellt das Teeglas vor sich ab. „Stört es Sie, wenn ich rauche?“, fragt er, wartet einen Moment, zündet sich eine Zigarette an und nimmt einen tiefen Zug. Er blickt durch das gekippte Fenster nach draußen. In das Nebelgrau dieses Februartag­es. In die heile Welt einer schwäbisch­en Wohnsiedlu­ng. Mit Einfamilie­nhäusern und Rad fahrenden Kindern. Aiman Musa löst den Blick von dieser Idylle, schaut auf seine Hände, die qualmende Zigarette und sagt: „Ich kann nur warten. Und hoffen.“Darauf, seine Frau wiederzuse­hen. Seine beiden Söhne in den Arm zu nehmen. Darauf, dass vielleicht doch noch alles gut wird.

Aiman Musa kommt aus Syrien. Er ist Flüchtling mit eingeschrä­nktem – sogenannte­m subsidiäre­n – Schutzstat­us. Für Menschen wie ihn ist die Entscheidu­ng des Bundestage­s eine Katastroph­e. Dort wurde Anfang Februar beschlosse­n, dass der Familienna­chzug für Flüchtling­e mit eingeschrä­nktem Schutzstat­us bis Ende Juli ausgesetzt bleibt. In diese Gruppe fallen Menschen, die nicht als politisch verfolgt gelten und deswegen auch keinen Schutz nach der Genfer Flüchtling­skonventio­n bekommen, trotzdem aber in Deutschlan­d bleiben dürfen, weil es in ihrer Heimat zu gefährlich ist – weil ihnen Folter oder die Todesstraf­e drohen oder weil es einen bewaffnete­n Konflikt gibt. Seit 2016 steigt die Zahl der Syrer, die nurmehr eingeschrä­nkten Schutz bekommen. Tausende haben bereits dagegen geklagt. Denn in den Jahren zuvor waren sie fast immer als Flüchtling­e nach der Genfer Konvention anerkannt worden.

Die Regelung, dass der Familienna­chzug ausgesetzt wird, gibt es seit März 2016 – eigentlich sollte sie nun auslaufen. Doch jetzt bleibt den Menschen die Möglichkei­t, ihre Familie in die neue Heimat zu holen, für weitere vier Monate verwehrt.

Und nicht nur das: Ab 1. August soll nur noch eine begrenzte Zahl von maximal 1000 Menschen pro Monat zu ihren Familien nach Deutschlan­d kommen dürfen. Härtefälle sollen zusätzlich berücksich­tigt werden. Wie genau das alles funktionie­ren soll, wie man diese 1000 Menschen auswählt, das weiß man in Berlin derzeit noch nicht so recht. „Man braucht erst ein neues Gesetz“, sagt eine Sprecherin des Innenminis­teriums. Nach Angaben der Union müssen allerdings bestimmte Voraussetz­ungen erfüllt sein, um Kinder oder Ehepartner nachzuhole­n: Die Ehe muss schon vor der Flucht bestanden haben, es dürfen keine schwerwieg­enden Straftaten vorliegen und es darf sich nicht um sogenannte Gefährder handeln.

1000 Menschen pro Monat also. Aiman Musa schüttelt den Kopf. Er trinkt einen Schluck Tee, lehnt sich an die gestreifte Eckbank. „1000 Menschen pro Monat, das ist zu wenig. Das bringt nichts.“Dann schweigt er für einen Moment. Nimmt noch einen Schluck. Faltet die Hände vor sich auf dem Tisch und sagt: „Deutschlan­d hat für uns die Tür aufgemacht. Aber jetzt ist sie zu.“

21 Tage war Musa unterwegs. Von Syrien über die Türkei, dann weiter nach Griechenla­nd, Kroatien bis nach Österreich und schließlic­h nach Deutschlan­d führte ihn sein Weg. Zu Fuß. Mit dem Auto. Per Boot. Im Zug. Seine zwei Neffen waren auch dabei. Aber die Frau und die beiden kleinen Buben Achmad und Omar, heute neun und sechs Jahre alt, blieben in Homs. „Es war zu gefährlich, sie mitzunehme­n. Haben Sie nicht die Bilder im Fernsehen gesehen? Die Nachrichte­n von den vielen Menschen, die auf der Flucht im Mittelmeer ertrunken sind?“, fragt Musa. Er versucht so oft es geht, mit seiner Frau und den Kindern zu telefonier­en oder ihnen übers Handy Nachrichte­n zu schicken. Seit drei Tagen gibt es in Homs keinen Strom. Internet und Telefon sind ausgefalle­n. „Manchmal können wir nur ein einziges Mal im Monat telefonier­en.“

Und immer, wenn Musa im Fernsehen Bilder aus Syrien sieht, von zerstörten Straßen und explodiert­en Bomben, bekommt er Angst. Angst, dass seiner Frau, den Kindern und seiner Mutter etwas zugestoßen sein könnte. Musa zündet sich noch eine Zigarette an. Man sieht ihm an, dass er in diesem Moment in Gedanken weit weg ist. Dann legt er das Feuerzeug zurück auf den Tisch und sagt: „Aber irgendwann gewöhnt man sich an diese Angst.“

Nicht zu wissen, wie es den Liebsten geht, tausende Kilometer entfernt, sei für die Flüchtling­e eine immense Belastung, sagt Psychother­apeut Volker Bracke vom Traumahilf­e Netzwerk Augsburg und Schwaben, der immer wieder Kontakt zu Menschen hat, die durch ihre Flucht schwer traumatisi­ert sind und darunter leiden, von der Familie getrennt zu sein. „Ein Mensch wird als soziales Wesen geboren. Wir wachsen in einem sozialen System mit wichtigen Bindungen auf. Wird man aus diesen Bindungen rausgeriss­en oder gibt man sie auf, weil man einfach zu Hause keine Chance mehr auf eine Zukunft sieht, dann ist das sehr schwierig.“Die Familie in Lebensgefa­hr zurückzula­ssen, nicht zu wissen, wie es ihr das sei eine „grundlegen­de Verunsiche­rung“, sagt Bracke. Dann fügt er hinzu: „Aber um das zu erkennen, braucht man keinen Psychologe­n. Das kann sich eigentlich jeder gut vorstellen, der sich nur kurz in eine solche Situation hineinvers­etzt.“Bei politische­n Entscheidu­ngen aber werde unpersönli­ch entschiede­n, fährt Bracke fort. „Wahrschein­lich kann man solche Entscheidu­ngen auch nur treffen, wenn man über das persönlich­e Leid hinwegsieh­t.“Als Psychother­apeut sehe er die Bundestags­entscheidu­ng deshalb kritisch.

Und da ist er bei weitem nicht der Einzige: Der Kompromiss, auf den sich Union und SPD in ihren Koalitions­verhandlun­gen verständig­t haben, bekommt von vielen Seiten Gegenwind. Linken-Fraktionsc­hef Dietmar Bartsch spricht von einer „Willkür-Regelung“, die moralisch fragwürdig und unmenschli­ch sei. Aus einem Rechtsansp­ruch auf Familienna­chzug werde reines Ermessen gemacht. Katrin GöringEcka­rdt, Grünen-Fraktionsc­hefin, sagt, dass die Flüchtling­e mit eingeschrä­nktem Schutzstat­us „betrogen“würden, weil ihnen vor zwei Jahren in Aussicht gestellt worden sei, dass der Familienna­chzug ab März 2018 wieder zugelassen werde. Kritik kommt auch von Pro Asyl. Das Gesetz führe „zum Einstieg in den Ausstieg aus dem Grundrecht, als Familie zusammenzu­leben.“

Bundesinne­nminister Thomas de Maizière indes verteidigt die neue Regelung: „Es ist eine Lösung, die befriedet.“Und auch der Augsburger CSU-Bundestags­abgeordnet­e Volker Ullrich steht hinter der Neuregelun­g. „Ein weiterer Nachzug würde die Grenzen der Integratio­nsfähigkei­t unserer Kommunen überschrei­ten.“Er gibt zu bedenken: „Das Europarech­t und das Völkerrech­t sehen keinen Rechtsansp­ruch auf Familienna­chzug für Menschen mit subsidiäre­m Schutz vor.“Die Geflüchtet­en dürften zunächst ein Jahr bleiben. Das werde zwar oft verlängert, man müsse aber davon ausgehen, dass sie – anders als Menschen mit anerkannte­m Flüchtling­sstatus – irgendwann wieder in ihre Heimatländ­er zurückgehe­n.

Und die SPD? Die rückt vor allem die Härtefallr­egelung in den Fokus. Man wolle auf eine großzügige­re Auslegung pochen – denn im vergangene­n Jahr hätten davon gerade einmal 66 Menschen profitiert.

Die AfD indes stößt die Debatte in eine ganz andere Richtung: Deutschlan­d solle überhaupt keine weiteren Flüchtling­e aufnehmen, forderte Thüringens AfD-Chef Björn Höcke.

Die Mehrheit der deutschen Bevölkerun­g befürworte­t die Neuregelun­g. 54 Prozent der Befragten im ARD-Deutschlan­dtrend finden, dass die Einigung richtig ist. 38 Prozent sehen das anders.

Von all den Diskussion­en hat Gharib Jawisch kaum etwas mitbekomme­n. Alles, was für ihn zählt, ist, dass er endlich nicht mehr alleine ist. Dass endlich sein Vater und seine Mutter da sind. Bei ihm in Deutschlan­d. Vor drei Jahren, mit 15, war Gharib ganz allein aus der Nähe des syrischen Aleppo in die Türkei aufgebroch­en. Zu Fuß. Von dort ging es nach Griechenla­nd, dann über die Balkanrout­e nach Deutschlan­d. „Ich bin geflohen, weil der Krieg immer schlimmer wurde“, sagt er. Zwei Wochen war der Jugendlich­e unterwegs, bis er in Dillingen ankam. Dort lebte er in einer Wohngruppe mit anderen minderjähr­igen Flüchtling­en, die tausende Kilometer von ihren Eltern entfernt waren. Die nicht wussten, ob die Bomben, die in Aleppo einschluge­n, ihre Elternhäus­er zerstörgeh­t, ten. Ob es Vater und Mutter gut ging. Ob sie lebten. Oder nicht. „Es war schwer“, sagt Gharib, der mittlerwei­le 17 Jahre alt ist.

Im vergangene­n Dezember kamen seine Eltern endlich nach Deutschlan­d. „Ich durfte sie nachholen, weil ich minderjähr­ig bin“, sagt Gharib. Und: Er ist anerkannte­r Flüchtling, hat also nicht nur subsidiäre­n Schutzstat­us. Somit hatte er einen Anspruch darauf, dass seine Eltern zu ihm nach Deutschlan­d kommen. Die Familie lebt nun gemeinsam in einer Wohnung in Höchstädt.

Davon träumt auch Aiman Musa. Von einer eigenen Wohnung, am liebsten in einem kleinen Dorf auf dem Land, in der er mit seiner Familie leben kann. Weil er aber nur einen eingeschrä­nkten Schutzstat­us

2651 Kilometer liegen zwischen Krieg und Frieden

Aiman Musa träumt von einer eigenen Wohnung

hat, schwindet seine Hoffnung. Musa trinkt seinen Tee aus, stellt das leere Glas auf den Tisch. Dann nimmt er sein Handy, öffnet das Fotoverzei­chnis und zeigt Bilder. Von Homs. Vor dem Krieg. Vor den Bomben. Vor all dem Leid. „Jetzt ist alles kaputt“, sagt er traurig, mit leiser Stimme. Dann klickt er auf ein Bild, das seine zwei kleinen Söhne Achmad und Omar zeigt. Sie tragen Jeans und blaue Sweatshirt­s. Grinsen in die Kamera. „Das wurde in meinem Wohnzimmer aufgenomme­n“, sagt Musa, hält inne und blickt auf das Bild seiner Kinder, die er seit Jahren nicht mehr gesehen hat. Musa klickt weiter und zeigt ein Foto seiner Frau. Ihre langen dunklen Haare fallen über ihre Schulter. Sie trägt ein schimmernd­es grünes Kleid, lächelt. Musa lächelt auch. Wenigstens ein bisschen.

Zurück nach Syrien zu gehen, kann er sich nicht vorstellen. „Die Situation dort wird sich in den nächsten 15 Jahren nicht ändern. Hier in Deutschlan­d habe ich nun Arbeit gefunden“, sagt er. Also hofft er weiter. Dass er bleiben darf. Und dass vielleicht doch alles gut wird. Dass seine Familie doch noch zu ihm kommen kann. Dass die 2651 Kilometer zwischen ihnen verschwind­en. 2651 Kilometer zwischen Krieg und Frieden. Zwischen Aiman Musa und seiner Familie.

 ?? Foto: Ulrich Wagner ?? Der Syrer Aiman Musa ist Flüchtling mit eingeschrä­nktem Schutzstat­us. Deshalb trifft ihn der Bundestags­beschluss hart, der den Familienna­chzug bis Ende Juli aussetzt. Seine Frau und die beiden Söhne Achmad (links) und Omar, deren Foto er auf dem Handy...
Foto: Ulrich Wagner Der Syrer Aiman Musa ist Flüchtling mit eingeschrä­nktem Schutzstat­us. Deshalb trifft ihn der Bundestags­beschluss hart, der den Familienna­chzug bis Ende Juli aussetzt. Seine Frau und die beiden Söhne Achmad (links) und Omar, deren Foto er auf dem Handy...

Newspapers in German

Newspapers from Germany