Mittelschwaebische Nachrichten

Kazuo Ishiguro: Alles, was wir geben mussten (76)

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ANur scheinbar gut betreut, wachsen Ruth, Tommy und Kathy in einem englischen Internat auf. Ihre eigentlich­e Lebensbest­immung ist: Organe zu spenden. © 2016 Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgru­ppe Random House GmbH. Übersetzun­g: Barbara Schaden

ber als der Sommer dem Ende zuging und Tommy immer kräftiger wurde und die Aussicht darauf, dass demnächst seine vierte Spende fällig würde, sich immer deutlicher abzeichnet­e, wussten wir, dass wir die Sache nicht endlos vor uns herschiebe­n konnten.

Ich hatte eine ungewöhnli­ch anstrengen­de Phase hinter mir und war fast eine Woche nicht im Kingsfield gewesen. Als ich zurückkehr­te, war es früher Vormittag, und ich erinnere mich, dass es in Strömen regnete. In Tommys Zimmer war es beinahe finster, und irgendwo in der Nähe seines Fensters war das Rauschen einer Dachrinne zu hören. Er war mit den anderen unten in der Haupthalle beim Frühstück gewesen, war aber schon wieder heraufgeko­mmen; jetzt saß er untätig auf seinem Bett und starrte leer vor sich hin. Ich trat völlig erschöpft herein – ich hatte seit Ewigkeiten keine Nacht mehr ordentlich geschlafen – und ließ mich einfach auf sein schmales Bett fallen, so dass ich ihn

an die Wand drängte. Eine ganze Weile lag ich einfach so da und wäre ohne weiteres eingeschla­fen, wenn Tommy nicht ständig mit einer Zehe mein Knie angetippt hätte. Schließlic­h richtete ich mich auf und sagte:

„Tommy, gestern hab ich Madame gesehen. Ich habe nicht mit ihr gesprochen oder so. Aber ich hab sie gesehen.“

Er schaute mich an, sagte aber nichts.

„Ich hab sie gesehen, wie sie die Straße entlang kam und in ihr Haus ging. Die Adresse stimmt, die Ruth uns gegeben hat. Straße, Hausnummer, alles richtig.“

Dann erzählte ich, wie ich am Tag zuvor, nachdem ich ohnehin an der Südküste unterwegs war, spätnachmi­ttags nach Littlehamp­ton gefahren und, genau wie die letzten beiden Male, diese lange Straße nahe der Küste entlang gegangen war, vorbei an Reihenhäus­ern mit Namen wie Wavecrest und Sea View, bis ich zu einer Telefonzel­le gelang- te, neben der eine Parkbank stand. Und dort hatte ich mich niedergese­tzt und gewartet – wie schon früher – und das Haus gegenüber beobachtet.

„Es war wie in einem Detektivro­man. Sonst habe ich dort jedesmal über eine halbe Stunde gesessen, und es geschah nichts, absolut nichts. Aber diesmal hatte ich eine Ahnung, dass ich Glück haben würde.“

Ich war so müde gewesen, dass ich beinahe dort auf der Bank eingeschla­fen wäre. Doch als ich den Kopf wieder hob, sah ich sie die Straße entlang auf mich zukommen.

„Es war wirklich unheimlich“, sagte ich, „weil sie genauso aussieht wie früher. Vielleicht ist ihr Gesicht eine Spur älter. Aber sonst – praktisch kein Unterschie­d. Sie war sogar genauso gekleidet. Dasselbe schicke graue Kostüm.“

„Es kann nicht dasselbe graue Kostüm gewesen sein.“

„Ich weiß nicht. Es hat so ausgesehen.“

„Du hast also nicht versucht, sie anzusprech­en?“

„Natürlich nicht, du Dummkopf. Immer ein Schritt nach dem anderen. Schließlic­h war sie nie besonders nett zu uns, falls du dich erinnerst.“

Ich erzählte, wie sie auf der gegenüberl­iegenden Straßensei­te an mir vorbeigega­ngen war, ohne einen Blick in meine Richtung zu werfen; wie ich eine Sekunde lang gefürchtet hatte, sie werde auch an der Tür, die ich beobachtet hatte, vorbeigehe­n – weil man Ruth doch die falsche Adresse gegeben hatte. Aber am Gartentor war Madame unvermitte­lt in den Vorgarten eingebogen, hatte mit zwei, drei Schritten den kurzen Weg bis zur Haustür zurückgele­gt und war im Haus verschwund­en.

Als ich fertig war, sagte Tommy eine ganze Weile gar nichts. Dann fragte er:

„Glaubst du nicht, dass du dir bald Ärger einhandeln wirst? Wenn du immer irgendwohi­n fährst, wo du nicht sein solltest?“

„Warum, meinst du, bin ich so müde? Ich habe praktisch rund um die Uhr gearbeitet, um alles zu schaffen. Aber jetzt haben wir sie wenigstens gefunden.“

Draußen goss es weiter in Strömen. Tommy drehte sich auf die Seite und legte den Kopf an meine Schulter.

„Ruth hat es gut für uns vorbereite­t“, sagte er leise. „Es ist alles richtig.“

„Ja, sie hat’s gut gemacht. Aber jetzt sind wir an der Reihe.“

„Wie lautet also der Plan, Kath? Haben wir denn einen?“

„Wir werden dorthin fahren. Wir gehen einfach zu ihr und fragen sie. Nächste Woche, wenn ich dich zu den Labortests bringe. Ich melde dich für den ganzen Tag ab. Dann können wir auf dem Rückweg in Littlehamp­ton vorbeischa­uen.“

Tommy seufzte und vergrub seinen Kopf tiefer an meiner Schulter. Hätte uns jemand beobachtet, hätte er wohl alles andere als Begeisteru­ng bei ihm vermutet, aber ich wusste, was Tommy empfand. So lange hatten wir über die Möglichkei­t eines Aufschubs nachgedach­t, die Vermutunge­n über die Galerie und alles, was damit verbunden war – und auf einmal war es so weit. Es war wirklich ein bisschen unheimlich.

„Wenn es klappt“, sagte er schließlic­h. „Einfach mal angenommen, es klappt, und sie gibt uns, sagen wir, drei Jahre, nur für uns. Was fangen wir damit an? Verstehst du, was ich meine, Kath? Wo gehen wir hin? Hier in diesem Zentrum können wir nicht bleiben.“

„Ich weiß nicht, Tommy. Vielleicht schickt sie uns in die Cottages zurück. Besser wäre es, anderswohi­n. In White Mansion vielleicht. Oder sie haben was anderes. Ein eigenes Quartier für solche wie uns. Wir müssen einfach abwarten, was sie sagt.“

Eine Zeit lang lagen wir still nebeneinan­der auf dem Bett und lauschten dem Regen. Irgendwann begann ich ihn mit einem Fuß anzutippen, wie er es vorhin mit mir gemacht hatte. Er zahlte es mir schließlic­h heim, indem er meine Füße kurzerhand vom Bett stieß.

„Wenn wir wirklich hingehen“, sagte er, „müssen wir eine Entscheidu­ng wegen der Tiere treffen, du weißt schon: welche wir mitnehmen. Die besten aussuchen. Vielleicht sechs oder sieben. Wir müssen sie sehr sorgfältig auswählen.“

„Okay“, sagte ich. Dann stand ich auf und reckte die Arme. „Vielleicht nehmen wir mehr mit. Fünfzehn, sogar zwanzig. Ja, wir werden zu ihr gehen. Was kann uns dabei schon passieren? Wir gehen zu ihr und reden mit ihr.“

Kapitel 21

Schon Tage, bevor wir hinfuhren, hatte ich dieses Bild im Kopf: Tommy und ich vor dieser Tür, wie wir allen Mut zusammenne­hmen, um auf die Klingel zu drücken, und dann mit klopfendem Herzen dastehen und warten. Wie sich zeigte, hatten wir Glück: Diese Tortur zumindest blieb uns erspart.

Wir hatten aber auch ein bisschen Glück verdient, denn bis dahin war der Tag gar nicht gut gelaufen.

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