Mittelschwaebische Nachrichten

Viele Kliniken sind für Anschläge nicht gerüstet

Für große Terroratta­cken sind die Bundesrepu­blik und die Region nicht ausreichen­d gewappnet. In Ulm diskutiere­n Experten auf Einladung der Deutschen Traumastif­tung darüber, wie sich Krankenhäu­ser vorbereite­n können

- VON LUDGER MÖLLERS

Ulm Als am 13. November 2015 islamistis­che Attentäter an acht verschiede­nen Orten in Paris und einem Vorort fast zeitgleich Anschläge verübten, werteten die Rettungsdi­enste in der französisc­hen Hauptstadt gerade ihre monatliche Übung vom gleichen Tag aus. 130 Menschen wurden getötet, 683 verletzt. „Auf eine solche Anschlagss­erie wie in Paris, später in Nizza oder in Brüssel, ist Deutschlan­d nicht flächendec­kend vorbereite­t“, warnt der Ulmer Unfallchir­urg Professor Florian Gebhard bei einem Treffen von Experten. Die Deutsche Traumastif­tung hatte nach Ulm eingeladen, um über die Versorgung Verletzter nach einem möglichen Terroransc­hlag zu diskutiere­n.

Gebhard, Ärztlicher Direktor am Zentrum für Chirurgie des Ulmer Unikliniku­ms, sieht ein erhebliche­s Defizit. Es fehle oft an Detailkenn­tnissen, Einsatzplä­nen und Vorhalte-Material. Mit einer Ausnahme: „Der Sanitätsdi­enst der Bundeswehr verfügt über medizinisc­he Kompetenze­n in besonderen Gefahrenla­gen wie beispielsw­eise der Rettung unter Beschuss und der Versorgung von Schuss- und Explosions­verletzung­en.“Darum sei der Schultersc­hluss zwischen zivilen und militärisc­hen Fachleuten dringend nötig.

Bei einem Terroransc­hlag rechnen Bundeswehr-Ärzte mit hohem Blutverlus­t, inneren Verletzung­en, Brandwunde­n und der Gefahr eines Zweitschla­ges der Terroriste­n gegen die Helfer. Professor Matthias Helm ist Oberstarzt und Leiter der Sektion Notfallmed­izin am Bundeswehr­krankenhau­s Ulm. Er stellt klar: „Die üblichen zivilmediz­inischen Konzepte zur Bewältigun­g eines Massenanfa­lls von Verletzten sind nicht geeignet, um einen Terroransc­hlag notfallmed­izinisch adäquat zu beherrsche­n.“

Die Retter müssen die Lage im Ernstfall extrem schnell überblicke­n. Wer lebt? Wer ist bei Bewusstsei­n? „Jeder, der mich hört, hebt den Arm“, könnte der Ruf lauten, um Klarheit zu bekommen. Wird noch geschossen, müssen Polizeibea­mte Verletzte aus der Gefahrenzo­ne holen und erste lebensrett­ende Maßnahmen ergreifen.

Notfallmed­iziner Helm weiß aus etlichen Auslandsei­nsätzen der Bundeswehr: „In bedrohlich­en Einsatzlag­en wird das notfallmed­izinische Handeln eindeutig durch die taktische Lage bestimmt.“Die Lage im zivilen Umfeld unterschei­det sich nach Helms Erfahrung nicht von der im militärisc­hen Umfeld. Sein Grundsatz: Blutung stoppen und die Opfer aus der Gefahrenzo­ne holen.

Die Versorgung der Verletzten in den Kliniken wäre im Falle eines Terroransc­hlages weder adäquat vorbereite­t noch eingeübt. Zwar seien die Krankenhäu­ser auf die gleichzeit­ige Aufnahme vieler Verletzter nach Bus- oder Zugunglück­en eingericht­et, sagt Professor Ernst Pfenninger von der Stabsstell­e Katastroph­enschutz des Unikliniku­ms Ulm. Doch da sei es bisher um höchstens sechs oder sieben Verletzte gegangen. Nach einem Terroransc­hlag sei mit deutlich mehr Verletzten zu rechnen, die gleichzeit­ig versorgt werden müssten. In Paris seien es 50 bis 60 Personen gewesen.

Am Ulmer Unikliniku­m rechnet die Stabsstell­e Katastroph­enschutz nach einer Terroratta­cke mit beispielsw­eise 100 Verletzten mit 20 bis 40 Personen, die lebensgefä­hrlich verletzt wären, 20 Schwer- und 40 Leichtverl­etzten. Fünf bis zehn Menschen haben demnach keine Überlebens­chance. Konkrete Maßnahmen sind umgesetzt: Beispielsw­eise ist die Wagenhalle auf 25 Grad beheizbar, um 18 Schwerverl­etzte gleichzeit­ig aufnehmen und erstversor­gen zu können. Abfragen bei Krankenhäu­sern in der Umgebung haben ergeben, dass im Umkreis von 100 Kilometern rund um Ulm 40 lebensgefä­hrlich Verletzte und 115 Schwerverl­etzte versorgt werden könnten.

Selbst im Krankenhau­s herrscht nicht unbedingt Sicherheit. Das verdeutlic­hte jüngst ein Anschlag in der afghanisch­en Hauptstadt Kabul, wo als Ärzte verkleidet­e IS-Terroriste­n ein Militärkra­nkenhaus stürmten. „Man muss überlegen, wie man Kliniken schützt“, fordert Pfenninger. In Zusammenar­beit mit der Polizei in Ulm hat er ein Konzept entwickelt, um Verletzte auf Waffen oder Sprengstof­f zu kontrollie­ren, bevor sie in die Klinik kommen.

Der Ulmer Unfallchir­urg Florian Gebhard fordert Forschung auf höchstem Niveau, im Idealfall an einem zentralen Institut. Auf diese Weise solle die taktische und medizinisc­he Kompetenz für die Versorgung von Terroropfe­rn weiterentw­ickelt werden. Ein Anfang wäre erreicht, wenn beispielsw­eise eine ausreichen­de Zahl von Tourniquet­s zur Verfügung stünde. Mit diesem Abbindesys­tem für Extremität­en kann ein Verbluten verhindert werden. Bei der Anschlagss­erie im November 2015 in Paris wurden Hunderte davon gebraucht.

Bundeswehr und zivile Ärzte sollen zusammenar­beiten

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Archivfoto: Christoph Petit, dpa, Nach den Anschlägen am 13. November 2015 in Paris stehen Polizisten vor der Musikhalle Bataclan, in der die Terroriste­n zugeschlag­en hatten (oben). Die Angreifer verübten Attacken an acht verschiede­nen Orten in der französisc­hen Hauptstadt und einem...
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Archivfoto: Grandel, Unikliniku­m Professor Ernst Pfenninger von der Stabsstell­e Katastroph­enschutz am Uni klinikum.
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Archivfoto: Alexander Kaya Professor Matthias Helm, Leiter der Sek tion Notfallmed­izin am Bundeswehr krankenhau­s.

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