Mittelschwaebische Nachrichten
Maulhelden wie wir
Heute beginnt die Fastenzeit. Nahezu 60 Prozent der Deutschen wollen bewusst verzichten – oder behaupten es zumindest. Wie Essensregeln die Gesellschaft prägen
Augsburg Die letzten Schoko-Nikoläuse liegen noch im Süßigkeitenfach. Ihr einst so sattes Braun wird längst von einem gräulichen Schleier überzogen. Und doch waren sie nie so verführerisch wie an diesem heutigen Tag. „Iss mich!“, rufen sie. „Schweigt!“, rüffelt der gute Wille. Sie ist gar nicht so einfach, die Sache mit der Mäßigung. Wo doch alles, was man will, zu jeder Zeit verfügbar ist. Doch ab heute zählt die Völlerei wieder zu den sieben Todsünden. Der Aschermittwoch markiert den Beginn der Fastenzeit.
Und obwohl sich die Deutschen zunehmend vom christlichen Glauben entfernen, wächst die Zahl derer, die bewusst verzichten. Seit 2012 stieg die Zahl der Fastenfans um 15 Prozent auf 59 Prozent, zeigte im vergangenen Jahr eine ForsaUmfrage im Auftrag der Krankenkasse DAK.
„Früher haben die Menschen gefastet, um in den Himmel zu kommen, heute fasten sie, um gesund in den Himmel zu kommen“, witzelt der Psychologe und Buchautor Manfred Lütz. „Unser Umgang mit Essen und Trinken hat sich wesentlich verändert“, sagt auch Gunther Hirschfelder, Kulturwissenschaftler an der Universität Regensburg. „Jede Gesellschaft braucht eine Ideologie, eine Idee, über die sie verhandeln kann.“Doch „mit dem Ende der Ideologien und der Abkehr von der Religion haben wir Leitplanken verloren“, sagt Hirschfelder. Die Funktion übernimmt nun – zumindest in bestimmten Kreisen – die Ernährung. Denn der Mensch will Regeln. Fallen die alten weg, sucht er sich eben neue.
Dabei geht es aber längst auch um Selbstoptimierung und den Versuch, sich in die Normen einer zunehmend visuell geprägten Gesellschaft einzufügen. Im Konkurrenzkampf wird auch der Körper zur Waffe, das Aussehen entscheidet über den Erfolg zumindest mit. Wer gut aussieht, hat mehr Erfolg. Dass das sogar in der Politik gilt, belegt inzwischen sogar eine Studie. Die Universität Düsseldorf hat 1786 Direktund Spitzenkandidaten analysiert, die bei der Bundestagswahl 2017 angetreten sind. Das Ergebnis: Im Extremfall kann ein Kandidat mit hoher Attraktivität fünf Prozentpunkte mehr bei den Erststimmen gewinnen.
Doch das Sprechen über Essen und Trinken hat dem Kulturwissenschaftler Hirschfelder zufolge nicht in jedem Fall etwas mit den tatsächlichen Verhaltensweisen zu tun. Auch das zeigen Umfragen und Studien: 23 Prozent der Bundesbürger holen sich mindestens einmal in der Woche unterwegs belegte Brötchen, Burger, Pizza oder andere Snacks. Die Folgen gibt es schwarz auf weiß: Selbst die Zahl extrem dicker Kinder und Jugendlicher hat sich weltweit in den vergangenen vier Jahrzehnten mehr als verzehnfacht.
Es geht bei der Ernährung aber keineswegs nur um Kalorienzufuhr, sondern um Identität – und damit um Abgrenzung. „Traditionell sind also Speisegebote Teil einer Identität
Der moderne Mensch will Regeln
Ist das alles nur eine Modeerscheinung?