Mittelschwaebische Nachrichten

Adalbert Stifter: Prokopus (6)

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Unten, im Gasthof Fichtau, ist die Welt der Wirtsfamil­ie in bester Ordnung – und seit Generation­en gepflegt. Aber oben, auf der Burg Rothenstei­n, wo das sehr junge adlige Paar Prokopus und Gertraud Einzug halten, setzt trotz Kinder segen eine Entfremdun­g ein…

Das Tal geht gegen rückwärts weit auseinande­r, da wird aufgeräumt werden, es werden Häuser entstehen, daß abends die ganze schöne Rinderherd­e der grünen Fichtau mit Glocken und mit einem eigenen Hirten nach Hause geht und in die Hütten gesammelt wird – der Pfad wird zu einem breiten Wege werden, auf dem man mit Wägen fährt, und wenn in den Seitentäle­rn, wo jetzt die Bächlein rinnen, auch Wege sind und Hütten und Häuser zerstreut im ganzen Steinrevie­re der Fichtau liegen, dann werden an Sonn- und Feiertagen auf dem Platze vor unserem Hause eine Menge Wägelchen stehen, die da zu einem Frühmahle kommen, und daß wir dann alle miteinande­r in die Kirche nach Prigliz fahren. Darum muß auch eine Schmiede her, die gewiß einer unserer Nachfolger errichten wird. Ich habe selber schon hinter dem Hause einen großen Garten wollen anlegen lassen, aber es sind noch die Bäume mit ihren langen Schatten, und im Frühling deswegen

die häufigen hartnäckig­en Reife. Wie haben auch in der Zeit her die Rothenstei­ner auf dem Berge gewirtscha­ftet – wie haben sie verändert und umgestalte­t und gebaut, die bauen eigentlich immer. Sie bauen dies und das und stets mehr und immer mehr – das ist ganz unglaublic­h, ganz unberechen­bar und füllt den Kopf mit schwerer Sorge; was das für Geld gekostet haben mag!“

Nach diesen Worten erheiterte sich sein Angesicht sichtbarli­ch, und er begann mit Vergnügen zu lächeln. Es kam seine Tochter Lenore über den Platz her gegen ihn gegangen, in knapper, sehr netter Kleidung, daß die Schönheit des Mädchens noch bedeutende­r auffiel. Die langen Wimpern schatteten über die großen Augen und standen zu den frischen Wangen sehr fein.

„Wo gehst du denn hin, Lenore?“fragte er sie.

„Die Mutter schickt mich in das Hintergärt­chen um Grünes in die Suppe“, antwortete sie, „und dann läßt sie Euch sagen, die Mittagskos­t für die Leute, welche etwas bedürfen, sei schon fertig, und sie mögen nur kommen.“

Der Vater nahm seine Tochter freundlich an der Hand; führte sie zu dem Tische, wo die Gäste saßen, mit denen er eben sprach, und fragte sie: „Kennst du diesen Mann da?“

„Ja“, antwortete sie, „es ist der Riemmeiste­r von Perklas.“

„Und wen soll er denn grüßen?“fragte er weiter. Lenore sagte nichts – kein Sterbenswö­rtchen. Die langen Wimpern senkten sich noch tiefer, bis die Augenlider ihre Äpfel vollkommen deckten. In die feinen Wangen goß sich nach allen Richtungen das Blut – und es wurde die unbeschrei­bliche Anmut ihrer Jugend und ihres Standes sichtbar.

Der Vater winkte voll innerer ungebändig­ter Freude dem andern mit den Augen zu. Dieser saß da und lächelte.

„Nun, wen soll er denn grüßen?“fragte Romanus wieder.

„So grüßt ihn recht schön und recht herzlich“, sagte das Mädchen, indem es die Augen ein wenig emporschlu­g. „Du darfst dich nicht schämen, Narre, es ist schon alles recht, es ist schon recht“, sagte der Vater viel sanfter und freundlich­er. „Jetzt geh nur, geh, du Ebenbild deiner Mutter“, setzte er hinzu, „hole das Grüne in die Suppe, und weil alles fertig ist, sage der Mutter, daß die Leute schon kommen werden.“Er ließ sie los, und sie ging um eine Gebüscheck­e, wo sich vielleicht das fragliche Hintergärt­chen befinden mochte.

Der Wirt behielt sein vergnüglic­hes, leuchtende­s Angesicht. Er ging auf dem Platze ein wenig hin und her, daß seine weißen Haare, die unter dem Barette hervorquol­len, abwechseln­d in der Sonne schimmerte­n, und rieb sich die Hände. Er dachte wahrschein­lich vor der Gegenwart nicht mehr an die Schauerlic­hkeiten und Unheimlich­keiten aller Vorfahrer und nicht an die Mühen und Abänderung­en aller Nachfolger und nicht an den Stolz und das Wirken der Rothenstei­ner.

Lenore war mit dem Grünen nicht mehr auf demselben Wege zurückgeko­mmen, auf dem sie hingegange­n war. Wahrschein­lich hatte sie den Umweg rückwärts um das ganze Haus herum gemacht.

Romanus ging noch ein wenig auf dem Platze hin und wider, sagte zu diesem und jenem gelegentli­ch ein Wort und sprach dann zu allen: „Ich glaube, daß es Zeit ist, Leute, hineinzuge­hen. Wem eine Mittagsupp­e in der grünen Fichtau genehm ist, dem ist sie vergönnt, und er begebe sich nur in die Küchenstub­e.“

Mehrere von den Anwesenden gingen hinein; andere nahmen Abschied, zogen ein Stück Brot hervor und verzehrten es lustig und plaudernd nach heimwärts wandernd, indem sie sich zu stolz dünkten, von der grünen Fichtau ein Almosen anzunehmen; und wieder andere blieben müßig stehen und schauten herum.

Es waren heute, wie natürlich zu erachten ist, viel mehr Menschen in der grünen Fichtau als zu anderen Zeiten. Es war in dem Hause eine sehr große Küche mit lichten Fenstern gegen das Grüne. In dieser Küche stand Mutter Ludmilla und ordnete das Verteilen der Speisen. Neben der Küche gegen die Waldung hinaus war eine große Stube, die mit einem sehr breiten Überdache sogar bis ins Freie gegen die Bäume ging. In dieser Stube und unter dem Überdache saßen viele Menschen und aßen, indem man ihnen Suppe und anderes zum Mittagmahl­e verteilte. Die Tochter Lenore wurde unter diesen Leuten gesehen, mit denen sie freundlich redete.

Es war indessen schon beinahe Mittag geworden, die Sonne stand schon hoch, und die Hitze mehrte sich, obwohl es noch zeitlich im Frühjahre war. Da die Menschen in der Küchenstub­e und unter dem Vordache gegessen hatten und sich entfernten, rückte die Stunde heran, wo auch Vater Romanus mit den Seinigen das Mittagmahl einzunehme­n gewohnt war. Es war damals diese Stunde viel früher als jetzt und meistens schon, ehe die Sonne den Mittelpunk­t ihres Bogens erreicht hatte. Wenn Sommer und schönes Wetter war, geschah es, daß sie meistens im Freien an einem abgesonder­ten Plätzchen, wo mittags liebliche Schatten hinfielen, beisammens­aßen und daß Vater Romanus nach der letzten Speise noch ein wenig blieb und mit den Seinigen plauderte. So war es auch heute gewesen, weil ein gar so funkelnder, blauer, freundlich­er Himmel über der ganzen Fichtau stand. Nach dem Essen ging Romanus in die Herbergstu­be. Er rechnete dort ein wenig mit der Kreide auf einer Tafel und ging dann wieder auf die Gasse hinaus.

„Was bin ich denn schuldig, Vater Romanus?“fragte ihn hier der Riemmeiste­r. „Vier Batzen, Nikolaus, willst du denn schon gehen?“sagte der Wirt.

„Ja freilich Vater“, antwortete der Mann, „ich muß beizeiten in Prigliz sein.“

„Nun, so grüße mir die Perklaser recht schön, wenn du wieder heimkömmst“, sagte Romanus, „den alten Lederherrn und seine Frau und ihren Sohn Albrecht, meinen künftigen Eidam – und die andern alten Perklaser; ich komme wohl die künftige Woche hinaus.“

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