Mittelschwaebische Nachrichten
Ohne Zukunft Ein Flaneur kommt nicht weiter
Ein sonderlicher Mann Mitte 50, der sein verkorkstes Leben improvisiert und aus der Verlegenheit seiner Existenz nicht herauskommt. „Ich hatte mehrere Frauen, mehrere Wohnungen, mehrere Berufe, mehrere Hosen, aber noch immer keine Zukunft.“Ein Herumstreuner, der in den Hinterlassenschaften seines gelebten Lebens herumlungert und als Flaneur in der Stadt ein Allheilmittel der anregenden Zerstreuung findet. Details, alltägliche Beobachtungen, halten ihn in der Welt, er schaut gerne Tieren zu.
Einer, der unablässig räsoniert und monologisiert. Ein frei schwebendes Wesen, lakonisch, melancholisch, selbstverliebt in seiner intelligenten Schicksalergebenheit. Die Frauen halten es nicht ewig mit ihm aus und er nicht mit ihnen. Er vernachlässigt seine Kleidung, er scheut den Hosenkauf.
Zu seinem Dasein fallen ihm Sätze ein wie diese: „Ich litt oft an der Vorstellung, dass ich mich mit der realen Welt zu heftig arrangiert hatte.“Oder: „Man hätte mich wegtragen können, so einfallslos und innerlich ausgeschabt kam ich mir vor.“Den kennen wir doch! Das ist doch eine Romanfigur von Wilhelm Genazino. Ist es, ja. Genazino hat auch in seinem neuen Roman „Kein Geld, keine Uhr, keine Mütze“wieder die bewährte Versuchsanordnung gewählt, die uns vertraut ist aus seinen letzten Büchern.
Doch diesmal ist der Autor noch einen Schritt weitergegangen, er löst sein Koordinatensystem stärker auf, der Roman ist zeitlich und örtlich unbestimmter – und der Leser bewegt sich in den Gedankenwelten des namenlosen Ich-Erzählers, der zwischen jetzt und damals, zwischen Innenwelt und Außenwelt mäandert, jederzeit durchlässig ist für Erinnerungen und geformt wird von Wiederholungen.
Welche Erzählzeit? Einerseits schlägt sich der Genazino-Mann, der um die 55 Jahre alt sein muss, mit Rauchmeldern, Flüchtlingsproblemen und Digitalisierung herum (also Jetzt-Zeit), andererseits verliert er sich ständig in Erinnerungen an seine Eltern, an Kindheit und Aufwachsen in der Nachkriegszeit, wofür er eigentlich zu jung ist. Ort des Geschehens: wieder Frankfurt. Aber weil Genazino in diesem Buch eine Art allgemeingültige Synthese seiner Sujets betreibt, sind diese Vergewisserungen überflüssig.
Die Verdichtung bemerkenswerter Sätze, das Gedränge von zitierwürdigen Stellen ist im neuen Genazino aufs Äußerste getrieben. Das gelingt wundervoll in diesem Roman, den es als Rahmen um den Zettelkasten dann doch noch braucht. Ein paar Kostproben: „Die Unmenge vertrauter Anblicke war dagegen, dass ich noch einmal auf die Straße ging.“„Manchmal blieb ich sogar stehen und sah mir die Mülleimer mit einer Genauigkeit an, für die ich keinerlei Verwendung hatte.“„Man kann dabei zuschauen, wie man vergessen wird. Das war das letzte Kapitel, das jeder Lebende zu lernen hatte.“
Erzählt wird in diesem Buch, das die souveräne Sicherheit eines selbstreferenziellen Alterswerks vermittelt, die tragikomische Geschichte eines kauzigen Taugenichts und sensiblen Verweigerers. Es ist eine Art Lebensbeichte, die nicht vom Fleck kommt. „Momentweise wusste ich wieder nicht, wo mein Leben hinlief, es war wie in einem Roman“, heißt es einmal. Handlung gibt es auch, es geht sogar um einen Todesfall – doch das zentrale Motiv dieses Romans sind die Ratlosigkeit, der Stillstand und das Gefangensein in den herrschenden Verhältnissen. Genazinos „Held“reflektiert seine Lage ununterbrochen. „Aus meiner Unentschlossenheit war eine Art Angst geworden. An dieser Unentschlossenheit würde ich eines Tages ersticken, und zwar unauffällig. Niemand würde meinen Tod bemerken.“ Wilhelm Genazino: Kein Geld, keine Uhr, keine Mütze