Mittelschwaebische Nachrichten
Von Tätern und Opfern
Die Leiche des Mannes liegt im Gras, daneben die Pistole. Sie gehört seiner Frau. Ihre Fingerabdrücke finden sich auf den Patronen wie auf der Waffe. Nachbarn berichten von häufigen und heftigen Streitereien der beiden. Der Mann hat kurz vor seinem Tod eine Lebensversicherung über 800 000 Euro für seine Frau abgeschlossen. Und: Sie hat kein Alibi.
Selten sind Todesfälle von solcher Stringenz. Selten scheint die Schuldfrage so klar auf der Hand zu liegen. Und doch scheint es nur so! Wenn wie in diesem Beispiel alles für den Mord spricht, wähnt man sich dann vielleicht vorschnell auf der richtigen Seite, fallen Alternativen unter den Tisch, werden Annahmen voreilig getätigt, Indizien eindeutig ausgelegt?
Die hier skizzierte Geschichte trägt den bezeichnenden Titel „Die falsche Seite“. Sie ist eine von zwölf Erzählungen, die Ferdinand von Schirach in seinem neuen Buch „Strafe“vorlegt (nach den StorySammlungen „Verbrechen“und „Schuld“, nach dem Roman „Der Fall Collini“und dem Theaterstück „Terror“). Der 1964 in München geborene, in Berlin tätige Anwalt und Strafverteidiger schöpft aus der Praxis von Prozessen, aus Gesprächen mit seinen Mandanten, verfremdet aber die Fälle derart, dass der Personenschutz gewahrt bleibt.
Der Autor (Enkel des NSDAPReichjugendführers und Wiener Gauleiters Baldur von Schirach) zieht den Leser in einer zwingenden Folge einfacher, scharf konturierter Sätze hinein in aufrüttelnde, verstörende, irrwitzige Menschenschicksale. Das hat nichts Reißerisches, enthält sich moralischer Urteile und psychologischer Erklärungen. Man wird Zeuge authentischer Verstrickungen. Die Intensität der Lektüre rührt aus den Grenzüberschreitungen zwischen Dokument und Literatur, im Weiteren zwischen Gut und Böse, Schuld und Unschuld, Recht und Rechthaberei. Die geschilderten Begebenheiten muten fremd und fern an, gehen einem aber durch pointierte Einblicke ins Innenleben, ins soziale Umfeld der Betroffenen schließlich so nahe, dass man sich seiner rasch gefassten Meinungen und Bewertungen schämt.
Die Prozess-Dialoge setzen den Leser gleichsam in den Gerichtssaal. Er wird konfrontiert mit völlig überraschenden Wendungen, Ausgängen, Urteilen. Vor seinen Augen verwischen sich sichtbare und erzählte Bilder, tauchen Menschen auf, die mit anderen nicht zurechtkommen, die sich selber nicht mehr begreifen, ja die noch nicht einmal wissen, warum sie so und nicht anders gehandelt haben. Wenn dann noch Sätze fallen wie „Es gab nichts, was noch gültig war“, dann geht man mit sich selbst zu Gericht, bevor man anklagend auf andere zeigt.
Eine Schöffin erkennt sich in einer furchtbar misshandelten Frau wieder. Ein Mann nimmt Rache, weil sein Nachbar seine über alles geliebte Sexpuppe zerstört. An einer Perlenkette fädeln sich folgenreiche Ereignisse auf. Ein Drogendealer kommt dank einer Trunkenheitsfahrt sehr milde davon. Ein Mann, der im Kreißsaal Zeuge der Geburt seines Sohnes wird, gerät völlig aus dem Gleis...
Die Stenogramme der SchirachStories klingen schon seltsam genug. In allen Fällen bleibt ein rätselhafter Rest, das Unausgesprochene, das Lückenhafte. Man fragt sich nach der Lektüre: Ist es überhaupt möglich, den ganzen Menschen zu sehen? Das eine sind die Ermittlungen vor Gericht, das andere ist das, was wirklich passiert ist. Ferdinand von Schirach spricht in diesem Zusammenhang lieber nicht von „Wahrheit“, sondern von „formalisierter Wahrheit“. Und noch eines hat sich dem Anwalt eingeprägt: „Je mehr wir über einen Menschen wissen, umso schwerer fällt es uns, ihn zu verdammen.“ Ferdinand von Schirach: Strafe