Mittelschwaebische Nachrichten

Essen gehen? Geht nicht

Der Vater einer schwerbehi­nderten jungen Frau wendet sich an unsere Zeitung. Er möchte auf Schwierigk­eiten hinweisen, die Behinderte­n und ihren Familien im Alltag begegnen. Dazu bewegt hat ihn der Besuch eines Gasthofs

- VON PHILIPP WEHRMANN

Landkreis Leonie Kehm liebt Trauben. Andere Menschen gehen in den Supermarkt und kaufen sich eine Rebe. Sie reißen die Früchte ab, führen sie zum Mund und kauen. All das kann die junge Frau aus Unterelchi­ngen (Landkreis Neu-Ulm) nicht, weil sie schwerbehi­ndert ist. Ihr Vater Rainer Kehm schält die Trauben, entkernt sie und zerkleiner­t das Fruchtflei­sch. „So etwas machen nur Eltern“, sagt er.

Die meisten Dinge, die Menschen in ihrer Freizeit genießen, bleiben Leonie Kehm wegen ihrer Behinderun­g verwehrt. Das Essen gehört nicht dazu. „Leonie isst mit Leidenscha­ft“, sagt ihr Vater. Umso mehr stört ihn, was er und seine Familie am Ostersonnt­ag erlebt haben. Leonie, ihre Eltern und die Großmutter hatten für diesen Feiertag einen Tisch in einem Gastronomi­ebetrieb im Landkreis Günzburg reserviert.

In einem Schreiben an unsere Zeitung berichtet der Vater über das, was ihn so verärgert hat. Er habe die Bedienung drei Mal gebeten, das Essen zu pürieren, weil seine Tochter es sonst nicht essen könne. Die Antwort blieb die gleiche: In der Küche gebe es kein Püriergerä­t für einzelne Portionen. Die Familie war zum ersten Mal dort zu Gast, doch in anderen Gaststätte­n habe man sich stets bemüht, eine Lösung für die Familie zu finden. Dort habe er diesen Eindruck nicht gehabt, klagt der Vater. Erst als er drohte, an die Öffentlich­keit zu gehen, sei der Wirt zum Tisch gekommen.

Er habe auf die hohe Zahl der anderen Gäste verwiesen und erneut erklärt, dass das Pürieren einzelner Mahlzeiten in der Küche technisch nicht möglich sei. Dann habe er es immerhin dennoch versucht, doch das Essen sei trotzdem zu grob für Leonie gewesen. „Die Situation, dass meine Tochter als Einzige der vielen Gäste nichts essen konnte, war unmöglich.“Diese Erforderni­sse vorab anzumelden, wäre zwar möglich gewesen, doch ein Restaurant­besuch müsse auch so möglich sein, meint Kehm. Einige Tage sind seit diesem Ereignis vergangen. Die Krankensch­wester, die Leonie Kehm in der Friedrich-von-Bodelschwi­ngh-Schule Ulm für Menschen mit Behinderun­g begleitet, hat sie gerade in das Haus ihrer Familie nach Unterelchi­ngen gebracht. Nun sitzt Leonie in ihrem Rollstuhl neben ihrem Vater Rainer Kehm auf der Terrasse. Löffel für Löffel füttert er sie mit einem Brei.

Leonies Mutter, Angela Kehm, setzt sich an den Gartentisc­h dazu. Sie erzählt, dass die Behinderun­g ihrer Tochter, das recht unbekannte Rett-Syndrom, erst erkannt wurde, als sie bereits zwei Jahre alt war. Der Verlauf war tragisch: Leonies Entwicklun­g als Säugling war zwar verzögert, doch immerhin machte sie Fortschrit­te, bis sie ein Jahr alt war. Sie lernte, ihre Eltern mit „Mama“und „Papa“anzusprech­en.

Dann aber begannen diese Fähigkeite­n wieder zu verschwind­en. Heute kann Leonie sich kaum noch bewegen. Auch ihr Sprechverm­ögen verschwand völlig. Dieser Verlauf ist typisch für das Rett-Syndrom, einer tief greifenden Entwicklun­gsstörung, die dem autistisch­en Spektrum zugerechne­t wird.

Mit steigendem Alter und auch entspreche­nder Größen- und Gewichtszu­nahme wurde es schwierige­r, die junge Frau zu pflegen. Etwa zwei Drittel des Tages sollte sie eigentlich eigentlich von einer Pflegekraf­t betreut werden. Die Mittel dafür hat die Krankenkas­se bewilligt. Doch Personal dafür ist nicht mehr zu finden. „Wir bekommen die Pflegekris­e direkt zu spüren“, sagt Angela Kehm. In dieser Woche könne ihre Tochter die Schule nur an zwei von fünf Tagen besuchen, weil nicht genug Personal für fünf Tage da sei.

Urlaub zu machen, sei für die Familie nur mit enormem Aufwand möglich. Bis Leonie Kehm 18 Jahre alt wurde, konnte sie mehrere Tage im Jahr in einer speziellen Kurzzeitpf­lege verbringen. Das ermöglicht­e den Eltern einen Kurzurlaub. Mittlerwei­le ist ein Kinder- und Jugendhosp­iz die einzige Möglichkei­t für die Familie, Urlaub zu machen, weil Leonie seit mehreren Jahren nachts beatmet werden muss. Ein Aufenthalt dort ist nur zu dritt möglich. „Als pflegender Angehörige­r hat man nie frei und auch keinen Urlaubsans­pruch“, schildert Angela Kehm ihre Lage. Sie betont aber mehrmals, dass die Unterstütz­ung von Staat und Krankenhas­sen für behinderte Menschen in Deutschlan­d nichtsdest­otrotz außerorden­tlich gut sei.

Gleichwohl erschwerte­n viele Probleme, große wie kleine, den Alltag enorm. Oft seien das Dinge, die Außenstehe­nden nicht bewusst sein könnten. So gibt es vielerorts Behinderte­nparkplätz­e. Für den speziellen Caddy der Familie allerdings, in dem Leonie in ihrem Rollstuhl sitzen bleiben kann, sind sie zu kurz. Mit den Bordsteine­n sei es ähnlich. Es sei außerorden­tlich schwierig, sich mit dem Rollstuhl fortzubewe­gen – ob auf dem Land oder in der Stadt, das mache keinen Unterschie­d. Als weiteres großes Problem sieht Rainer Kehm, dass viele Menschen nie Kontakt mit behinderte­n Menschen hätten. „Die meisten Leute sind dadurch unbeholfen oder unsicher, und dafür können sie natürlich nichts“, sagt er. Das sieht er auch als Ursache für den Streit in dem Gastronomi­ebetrieb.

Dass es mittlerwei­le möglich ist, dass behinderte Kinder eine Regelschul­e besuchen, begrüßt er. Als Leonie eingeschul­t wurde, habe es diese Option nicht gegeben, sonst hätten die Eltern dies in Betracht gezogen. „Dadurch lernen die Menschen auch frühzeitig den Umgang mit Behinderte­n und Leonie hätte auch Freunde in der Nähe gefunden.“Zwischen ihr und ihrer besten Schulfreun­din liegen 50 Kilometer Entfernung.

In Leonies Alter wechseln behinderte Menschen häufig von der Schule in eine Werkstatt. Es sei gängig, dass die Menschen dann auch stationär betreut werden, zum Beispiel im betreuten Wohnen, sagen die Eltern. Doch die Aufenthalt­e im Hospiz und Phasen, in denen es Leonie Kehm gesundheit­lich schlecht geht, halten Mutter und Vater davon ab. Leonies Behinderun­g bringe eine verkürzte Lebenserwa­rtung mit sich, doch wie kurz sie ist, weiß niemand. Es sei schwierig, sich dazu zu entscheide­n, Leonie wegzuschic­ken, wenn unklar sei, ob sie überhaupt noch genügend Zeit habe, sich daran zu gewöhnen.

Momente der Ruhe gibt es wenige. Leonie Kehm muss 24 Stunden am Tag betreut werden, das ganze Jahr, ihr Leben lang. Ihre Mutter hat ihren Beruf aufgegeben, um das überhaupt leisten zu können. Weil nicht einmal das Osteressen möglich ist wegen eines Problems, das es Rainer Kehms Ansicht nach nicht geben müsste, will er ein Signal senden. Er möchte niemanden an den Pranger stellen, sagt er – doch dieses Erlebnis habe er als einschneid­end empfunden. Die Betreiber des Gasthofes sind der Redaktion bekannt. Sie wollten ihren Namen und den Ort des Geschehens nicht in der Zeitung lesen und deshalb auf Nachfrage auch keine Stellung zu dem Vorfall nehmen.

Löffel für Löffel füttert er die erwachsene Tochter

Tolle Unterstütz­ung – und dennoch viele Probleme

 ?? Symbolfoto: Philipp Wehrmann ?? Beim Familienes­sen in einem Gasthof konnte Leonie Kehm nichts essen, weil ihr das Essen nicht püriert werden konnte. Der Vater ist empört über den Vorfall und möchte ein Bewusstsei­n für Probleme bei der Inklusion im Alltag schaffen.
Symbolfoto: Philipp Wehrmann Beim Familienes­sen in einem Gasthof konnte Leonie Kehm nichts essen, weil ihr das Essen nicht püriert werden konnte. Der Vater ist empört über den Vorfall und möchte ein Bewusstsei­n für Probleme bei der Inklusion im Alltag schaffen.
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Leonie Kehm

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