Mittelschwaebische Nachrichten

Eine Leiter zum Himmel gebaut

Sandra und Reinhard Schlitter erzählen, wie sie über den Mord an ihrem Sohn Mirco hinweggeko­mmen sind

- VON JOSEF OSTERIED

Niederraun­au Sandra und Reinhard Schlitter aus Grefrath stehen mitten im Leben, wirken entspannt, fast fröhlich. Doch Sandra Schlitter wäre einmal „vielleicht in der Psychiatri­e gelandet“, wie sie vor dem vollen Saal im Gasthof Grüner Baum in Niederraun­au sagte. In ihrem gemeinsame­n Vortrag sagte das Ehepaar Schlitter, was ihm geholfen hat, „die Spirale aus Hass und Verzweiflu­ng zu verlassen“und „wie man ein Leben führen kann, das trotz allem Zuversicht, Menschenli­ebe und Glauben vereint“. Vor acht Jahren ging die Geschichte von Mirco aus Grefrath durch alle Medien. Ein zehnjährig­er Bub, der nach einem Besuch auf einer Skaterbahn nicht mehr nach Hause kam. Grefrath, eine Kleinstadt mit etwa 15 000 Einwohnern, eine Stunde nördlich von Köln, bot der Familie Schlitter, den Eltern und ihren vier Kindern, Geborgenhe­it. Bis zu dem Tag jedenfalls, als ihr Sohn und Bruder entführt wurde. Die verzweifel­ten Eltern und die Polizei suchten mithilfe des Fernsehens nach ihm. Er wurde schließlic­h nach fünf Monaten gefunden: missbrauch­t und erdrosselt. Sein Mörder wurde gefasst und zur Höchststra­fe verurteilt: lebensläng­lich. Darüber hinaus stellte das Gericht die besondere Schwere der Schuld fest.

Wie ist Mircos Familie mit dieser Situation umgegangen? Wie schaffte sie es, nicht daran zu zerbrechen? Weshalb hat sie dem Täter verziehen? Eltern machten sich keine gegenseiti­gen Vorwürfe: „Wir tappten in keine Sündenbock­falle.“Durch ein Missverstä­ndnis hatten sie nämlich erst am Morgen gemerkt, dass ihr Kind am Abend nicht heimgekomm­en war. Die Familie mit ihren Kindern Judith, Julia und Alexander, damals acht, elf und zwölf, rückte zusammen. „Jeder schaute in diesen ersten Tagen geradezu ängstlich auf den anderen.“Die Verwandten, ihre Nachbarn und die Freunde aus ihrer Gemeinde bildeten das Rückgrat der ersten Tage. Die Polizisten waren für die Familie weit mehr als Ermittler, sie waren und Helfer“. In seiner einfühlsam­en Predigt bei Mircos Beerdigung spendete der Präses der Kirche Trost: „Ein Kind Gottes stirbt nicht. Bei allem Schmerz wissen wir dich in Gottes Hand geborgen. Wir werden dich wiedersehe­n, lieber Mirco!“

Gott spielt für Mircos Eltern, Mitglieder einer christlich­en Freikirche, eine zentrale Rolle. „Wer an Gott glaubt, will nicht an Hass und Bitterkeit festhalten. Hass würde uns in unserer Entwicklun­g bremsen. Gott will nicht, dass wir Rache üben.“Das Paar sagt sich, ein Urteil über den Täter stünde nur dem GeDie richt und Gott zu. „Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde, die man nicht verstehen kann.“Diese Erkenntnis gehört für Mircos Eltern zum Loslassen dazu. Sie geben Gott keine Schuld, er sei nicht allein für unser Schicksal verantwort­lich. Gott habe den Menschen den freien Willen gegeben. Der Mörder habe auch einen freien Willen gehabt. „Gott lässt seine Sonne aufgehen über Gute und Böse.“Der wichtigste Trost für Mircos Hinterblie­bene ist ihre Überzeugun­g, dass sie ihn wiedersehe­n werden, „an einem Ort, der schöner ist als die Erde“.

Weshalb sie dem Mörder verzie„Berater hen haben, hat eigennützi­ge und christlich­e Motive: „Wir wollten unsere Herzen nicht vergiften“und „Mirco hat drei wundervoll­e Geschwiste­r. Auch sie haben das Recht auf ein Leben, das nicht in Erstarrung untergeht.“Das christlich­e Motiv fanden sie im Gebet des „Vaterunser“: „Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldiger­n.“

In ihrem Buch „Mirco. Verlieren. Verzweifel­n. Verzeihen.“denken Sandra und Reinhard Schlitter nicht nur an ihren Mirco: „Vielleicht kann unser Bericht dazu beitragen, die Wahrnehmun­g zu schärfen: für das, was um uns herum geschieht und wo manchmal ein genaueres Hinsehen, ein Anruf, ein Einschreit­en vielleicht Furchtbare­s verhindern kann.“

Und was besagt nun die Überschrif­t, wer baute sich eine Leiter zum Himmel und weshalb? Im Sommer vor seinem Tod hatte sich Mirco eine Leiter aus der Scheune geholt, war hinaufgekl­ettert und auf ihr herumgetur­nt. Auf die Frage seiner Tante Marita, was das werden solle, hatte er geantworte­t: „Ich baue mir eine Leiter zum Himmel.“Eine Begründung gab er nicht. Mircos Eltern finden heute Trost bei dem Gedanken, dass ihr Kind jetzt im Himmel ist. Die vielen Zuhörer lauschten atemlos und waren voller Anteilnahm­e und Bewunderun­g. In der Mitte des Vortrags gab es eine Unterbrech­ung für ein gemeinsame­s Abendessen. Am Schluss blieben die meisten für gemeinsame Gespräche sitzen.

 ?? Foto: Josef Osteried ?? Reinhard und Sandra Schlitter, die Eltern des ermordeten Mirco, und Martin Wohlfahrt, der Gastgeber vom Verein „Christen im Beruf“im Gasthof Grüner Baum in Niederraun­au.
Foto: Josef Osteried Reinhard und Sandra Schlitter, die Eltern des ermordeten Mirco, und Martin Wohlfahrt, der Gastgeber vom Verein „Christen im Beruf“im Gasthof Grüner Baum in Niederraun­au.
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