Mittelschwaebische Nachrichten
Eine Leiter zum Himmel gebaut
Sandra und Reinhard Schlitter erzählen, wie sie über den Mord an ihrem Sohn Mirco hinweggekommen sind
Niederraunau Sandra und Reinhard Schlitter aus Grefrath stehen mitten im Leben, wirken entspannt, fast fröhlich. Doch Sandra Schlitter wäre einmal „vielleicht in der Psychiatrie gelandet“, wie sie vor dem vollen Saal im Gasthof Grüner Baum in Niederraunau sagte. In ihrem gemeinsamen Vortrag sagte das Ehepaar Schlitter, was ihm geholfen hat, „die Spirale aus Hass und Verzweiflung zu verlassen“und „wie man ein Leben führen kann, das trotz allem Zuversicht, Menschenliebe und Glauben vereint“. Vor acht Jahren ging die Geschichte von Mirco aus Grefrath durch alle Medien. Ein zehnjähriger Bub, der nach einem Besuch auf einer Skaterbahn nicht mehr nach Hause kam. Grefrath, eine Kleinstadt mit etwa 15 000 Einwohnern, eine Stunde nördlich von Köln, bot der Familie Schlitter, den Eltern und ihren vier Kindern, Geborgenheit. Bis zu dem Tag jedenfalls, als ihr Sohn und Bruder entführt wurde. Die verzweifelten Eltern und die Polizei suchten mithilfe des Fernsehens nach ihm. Er wurde schließlich nach fünf Monaten gefunden: missbraucht und erdrosselt. Sein Mörder wurde gefasst und zur Höchststrafe verurteilt: lebenslänglich. Darüber hinaus stellte das Gericht die besondere Schwere der Schuld fest.
Wie ist Mircos Familie mit dieser Situation umgegangen? Wie schaffte sie es, nicht daran zu zerbrechen? Weshalb hat sie dem Täter verziehen? Eltern machten sich keine gegenseitigen Vorwürfe: „Wir tappten in keine Sündenbockfalle.“Durch ein Missverständnis hatten sie nämlich erst am Morgen gemerkt, dass ihr Kind am Abend nicht heimgekommen war. Die Familie mit ihren Kindern Judith, Julia und Alexander, damals acht, elf und zwölf, rückte zusammen. „Jeder schaute in diesen ersten Tagen geradezu ängstlich auf den anderen.“Die Verwandten, ihre Nachbarn und die Freunde aus ihrer Gemeinde bildeten das Rückgrat der ersten Tage. Die Polizisten waren für die Familie weit mehr als Ermittler, sie waren und Helfer“. In seiner einfühlsamen Predigt bei Mircos Beerdigung spendete der Präses der Kirche Trost: „Ein Kind Gottes stirbt nicht. Bei allem Schmerz wissen wir dich in Gottes Hand geborgen. Wir werden dich wiedersehen, lieber Mirco!“
Gott spielt für Mircos Eltern, Mitglieder einer christlichen Freikirche, eine zentrale Rolle. „Wer an Gott glaubt, will nicht an Hass und Bitterkeit festhalten. Hass würde uns in unserer Entwicklung bremsen. Gott will nicht, dass wir Rache üben.“Das Paar sagt sich, ein Urteil über den Täter stünde nur dem GeDie richt und Gott zu. „Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde, die man nicht verstehen kann.“Diese Erkenntnis gehört für Mircos Eltern zum Loslassen dazu. Sie geben Gott keine Schuld, er sei nicht allein für unser Schicksal verantwortlich. Gott habe den Menschen den freien Willen gegeben. Der Mörder habe auch einen freien Willen gehabt. „Gott lässt seine Sonne aufgehen über Gute und Böse.“Der wichtigste Trost für Mircos Hinterbliebene ist ihre Überzeugung, dass sie ihn wiedersehen werden, „an einem Ort, der schöner ist als die Erde“.
Weshalb sie dem Mörder verzie„Berater hen haben, hat eigennützige und christliche Motive: „Wir wollten unsere Herzen nicht vergiften“und „Mirco hat drei wundervolle Geschwister. Auch sie haben das Recht auf ein Leben, das nicht in Erstarrung untergeht.“Das christliche Motiv fanden sie im Gebet des „Vaterunser“: „Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.“
In ihrem Buch „Mirco. Verlieren. Verzweifeln. Verzeihen.“denken Sandra und Reinhard Schlitter nicht nur an ihren Mirco: „Vielleicht kann unser Bericht dazu beitragen, die Wahrnehmung zu schärfen: für das, was um uns herum geschieht und wo manchmal ein genaueres Hinsehen, ein Anruf, ein Einschreiten vielleicht Furchtbares verhindern kann.“
Und was besagt nun die Überschrift, wer baute sich eine Leiter zum Himmel und weshalb? Im Sommer vor seinem Tod hatte sich Mirco eine Leiter aus der Scheune geholt, war hinaufgeklettert und auf ihr herumgeturnt. Auf die Frage seiner Tante Marita, was das werden solle, hatte er geantwortet: „Ich baue mir eine Leiter zum Himmel.“Eine Begründung gab er nicht. Mircos Eltern finden heute Trost bei dem Gedanken, dass ihr Kind jetzt im Himmel ist. Die vielen Zuhörer lauschten atemlos und waren voller Anteilnahme und Bewunderung. In der Mitte des Vortrags gab es eine Unterbrechung für ein gemeinsames Abendessen. Am Schluss blieben die meisten für gemeinsame Gespräche sitzen.