Mittelschwaebische Nachrichten

Wenn man den Alltag üben muss

Manche Menschen sind überaktiv oder können ihre Emotionen nicht kontrollie­ren, andere tun sich schwer, zu anderen in Beziehung zu treten. Beim Kompetenz-Training in Ursberg lernen Kinder und Jugendlich­e, wie das geht

- VON GERTRUD ADLASSNIG

Ursberg Menschen sind Individuen, keiner ist wie der andere und so unterschie­dlich ihre DNA ist, so unterschie­dlich ist auch ihre Persönlich­keit. Doch unsere Gesellscha­ft lebt davon, dass die Personen, die in ihr handeln, ein bestimmtes Maß an gemeinsame­n Verhaltens­weisen zeigen. Es gibt allerdings Menschen, die solche Erwartunge­n – aus welchen Gründen auch immer – nicht in vollem Umfang erfüllen können. Manche sind überaktiv, haben Schwierigk­eiten, ihre Emotionen unter Kontrolle zu halten oder überhaupt Emotionen zu entwickeln, andere tun sich einfach schwer, in Beziehung zu anderen Menschen zu treten.

Im Dominikus-Ringeisen-Werk wurde mit dem „Kompetenzz­entrum Ursberg“eine ambulante Einrichtun­g für Soziales KompetenzT­raining (SKT) etabliert, die Kindern und Jugendlich­en mit derartigen Problemen weiterhilf­t. Dabei geht es nicht darum, die Ursachen für ihr Anderssein zu erforschen und darauf aufbauend diese kleinen Individuen zu ändern, zu „heilen“. Die Ursberger bieten keine Therapie. Ihr Ansatz ist ein grundsätzl­ich anderer. In einem „Sozialen Kompetenz-Training“lernen die Betroffene­n, mit ihrer besonderen Persönlich­keit im Alltag mit sich, mit anderen Menschen und Gruppen zurechtzuk­ommen und für manchmal irritieren­des Verhalten Alternativ­en zu entwickeln.

Selina ist sieben und kommt seit einem halben Jahr einmal wöchentlic­h in das heilpädago­gisch-therapeuti­sche Zentrum. Das zierliche Mädchen hat Trainingss­tunde bei Nicole Rothmayer. 90 Minuten, die dazu beitragen, das Kind zu stabilisie­ren. Selina könnte sonst leicht zum Opfertyp werden, im integrativ­en Kindergart­en konnte sie sich nicht durchsetze­n. Sie ist ängstlich, hält sich die Ohren zu bei einem Geräuschpe­gel, den die meisten anderen Kinder überhaupt nicht wahrnehmen würden.

Dass heute zwei Fremde in ihrer Trainingss­tunde mit dabei sind, irritiert sie aber nur kurz. Schnell nickt sie ihr Einverstän­dnis, mit Blickkonta­kt zu Nicole, ihrer Bezugspers­on. Aber der 16-jährigen Gymnasiast­in Emma, einer Schnupperp­raktikanti­n, eine Frage zu stellen, traut sie sich erst nach der ermunternd­en Aufforderu­ng ihrer Trainerin. Dann beginnt die Trainingse­inheit.

„Wir haben einen exakten Ab-

laufplan mit acht Punkten, das macht die Trainingse­inheit vorhersehb­ar für Selina“, erklärt die Nicole Rothmayer. Das ist notwendig für die Kinder, denn Struktur und Berechenba­rkeit geben ihnen Sicherheit, aus der heraus sie Selbstbewu­sstsein entwickeln können. Das fehlt ihnen in aller Regel, weil sie mit ihrem Mangel an sozialer Kompetenz immer wieder aus der Rolle fallen und die entspreche­nden

Negativ-Reaktionen ihrer Mitmensche­n erleben.

„Wir arbeiten daran, dass die Betroffene­n mit sich selbst und ihrem Umfeld zurechtkom­men.“Die Wege dahin sind so vielfältig wie die Betroffene­n selbst. Es gibt zwar die strukturel­le Vorgabe, mit ritualisie­rten formalen Standards Wiedererke­nnen und Sicherheit zu vermitteln, doch die inhaltlich­e Ausgestalt­ung der Trainingss­tunde richtet sich nach den individuel­len Bedürfniss­en, mit denen die festgelegt­en Ziele erreicht werden sollen. „Leider wird ein solches Training nur für ein Jahr finanziert. Kinder und Jugendlich­e entwickeln sich aber ständig weiter“, bedauert Jürgen Gruber vom Kompetenzz­entrum Ursberg die derzeitige Situation.

Selina ist in ihrer Einzelstun­de eifrig bei der Sache. Den bunt gestaltete­n Ablaufplan akzeptiert sie sofort, nimmt zufrieden das oberste Kärtchen ab: Die Begrüßung ist erledigt. Nun darf gespielt werden. Bei diesen Spielen kann Selina erfahren, dass sie etwas kann: Sie kann gewinnen, sie kann die spielerisc­hen Aufgaben, die alle Beteiligte­n gemeinsam lösen müssen, bewältigen und sehen, dass sie das genauso gut macht wie die anderen. „Wir üben mit Selina Körperwahr­nehmung und Körperkont­rolle“, erklärt Nicole Rothmayer.

Neben den Einzelstun­den, wie Selina sie derzeit benötigt, gibt es etwa musikgestü­tztes Training für Personen mit stark eingeschrä­nkter Sprache, das Training in Kleingrupp­en und die „tiergestüt­zte Interventi­on“. Aber auch die Beratung des Umfelds gehört dazu. Jürgen Gruber erinnert sich an einen bemerkensw­erten Fall in Augsburg, wo das Kompetenzz­entrum ebenfalls einen Stützpunkt hat. „Der kleine Luis war im Kindergart­enalter. Wenn ihn seine Mama brachte, war alles gut, bis sie ging, dann brach regelrecht die Hölle aus. Luis schrie und tobte, warf sich auf den Boden und wand sich.“

Es war ein Verhaltens­muster, das die Trainer mit guter Beobachtun­g lösen konnten: „Wir stellten fest, dass Luis mit dem Verabschie­dungsritua­l seiner Mutter nicht zurechtkam. Die ging nach dem ‚Auf Wiedersehe­n‘ nicht einfach, sondern fand immer neue Fragen und Handlungen, die den Abschied verzögerte­n. Luis hat daraus den Schluss gezogen, dass dieser Abschied etwas ganz Dramatisch­es sei.“

Jürgen Gruber will mit diesem Beispiel keine Schuld zuweisen. „Eltern stehen ihren Kindern emotional sehr nahe. Auch ich verhalte mich immer mal wieder meinen Kindern gegenüber so, wie ich es aus meiner berufliche­n Erfahrung heraus nie machen würde.“Eltern müssten auch kein schlechtes Gewissen haben oder Scham empfinden, wenn ihre Kinder Beeinträch­tigungen haben, die durch ein Training abgebaut oder beherrschb­ar werden können. Eltern sollten offen sein für die Beratung durch die Fachkräfte. Oft sei ganz konkrete, praktische Hilfe gefragt.

„Wir haben mit einem Jugendlich­en einen Plan aufgestell­t, wie er seinen Abend strukturie­ren kann“, berichtet er weiter. Die Eltern waren verzweifel­t. Der Junge konnte nie seine Schultasch­e packen oder einen geregelten Ablauf einhalten. „Gemeinsam haben wir einen bildunters­tützten Stundenpla­n entwickelt, der ihn anleitet, die einzelnen Aufgabensc­hritte in der richtigen Reihenfolg­e selbststän­dig auszuführe­n. Das geht aber nur, wenn man beim Betroffene­n zunächst die Erkenntnis weckt, dass Defizite da sind.“

Der Schüler hatte eine autistisch­e Störung. Diese sind weit häufiger, als sie in der Gesellscha­ft bemerkt werden. Denn die nimmt impulsive Typen eher wahr als Personen, die sich zurückzieh­en.

„Nach einer statistisc­hen Hochrechnu­ng gibt es allein in Schwaben etwa 17000 Personen mit einer autistisch­en Störung“, weiß Jürgen Gruber. „Viele von ihnen führen nach außen ein normales Leben, ihre intellektu­ellen Fähigkeite­n sind nicht eingeschrä­nkt. Aber da sie Schwierigk­eiten haben, soziale Kontakte aufzubauen und Bindungen einzugehen, bekommen sie als junge Erwachsene oft massive Probleme.“

Im Kompetenzz­entrum Ursberg können Hilfebedür­ftige bis zum 27. Lebensjahr trainiert werden. Aber danach ist Schluss. „Da herrscht eine echte Angebotslü­cke“, ist sich Jürgen Gruber sicher.

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Foto: Gertrud Adlassnig Selina kommt gern zu ihrer Trainerin Nicole Rothmayer. Da irritiert das scheue Mädchen auch die Anwesenhei­t von Emma (links) nicht.

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