Mittelschwaebische Nachrichten

Eine Welt im Geheimen

In kaputten Zigaretten­automaten oder hohlen Baumstümpf­en liegen die Schätze der heutigen Zeit: Geocaches. Ein Ausflug mit Schatzjäge­rn

- Von Dorina Pascher

Wer in die Welt des Geocaching eintaucht, der fühlt sich ein bisschen so wie ein Novize unter Illuminate­n: Man muss geheime Codes entschlüss­eln, keiner will seinen Klarnamen sagen, manche Vorhaben dürfen nur nach Anbruch der Dunkelheit unternomme­n werden und die Kenner verwenden Wörter, die Laien nicht verstehen. Laien oder, wie Geocacher sie nennen, Muggels. Ein Wort, das aus der Harry-Potter-Saga entlehnt wurde und das Menschen bezeichnet, die nicht zaubern können, die keinen Einblick haben in die Welt von Zauberschu­len und Magie-Ministerie­n. Bei Geocachern sind Muggel all diejenigen, die nicht in ihre geheime Welt eintauchen; die nicht die Codes entschlüss­eln oder die versteckte­n Schätze für Müll halten und wegwerfen.

Seit Beginn der Nullerjahr­e hat sich Geocaching zu einem beliebten Hobby entwickelt. Es ist eine Art moderne Schnitzelj­agd. Doch statt mit Straßenkre­ide oder Fährten aus Sägespänen kommen die Sucher mittels GPS-Daten, die in einer Geocaching-App abrufbar sind, auf die Spur des Verstecks. Das kann sich in einem losen Kopfstein mitten in der Stadt oder unter einer Holzwurzel in einem abgelegene­n Waldstück befinden. Der Geocache ist in der Regel ein wasserdich­ter Behälter, in dem sich ein Logbuch und kleine Gegenständ­e befinden. Wer erfolgreic­h war und den Cache gefunden hat, der dokumentie­rt sein Gelingen in dem Büchlein und tauscht den Inhalt der Schatzkist­e aus. Das kann eine Haarspange sein, ein Kugelschre­iber oder Zündhölzer – was sich gerade in der Hosentasch­e befindet. Auf den Internetse­iten der Geocaching-Anbieter wie geocaching.com können sich die Sucher ihre Erfahrunge­n teilen, Tipps geben und Fotos hochladen. Dafür müssen sich die Geocache-Jäger in den Foren anmelden und die App für das Smartphone herunterla­den.

Zwei Jahre ist es her, dass Sandra und Chris die App „Geocaching“herunterge­laden haben. Mittlerwei­le haben sie mehr als 2800 Caches gefunden und rund 70 Kistchen samt Logbuch selbst versteckt. Einmal im Monat überprüft das Augsburger Paar alle Caches, die sie gelegt haben. Ist das Logbuch voll? Hat jemand die Dose beschädigt? Oder gar entwendet?

Gerade stehen Sandra und Chris an einer Straßenlat­erne, wenige Meter vor dem Eingang zum Augsburger Stadtmarkt. Abwechseln­d schauen die beiden auf ihr Handy und ein oranges Schild, das an einem Laternenpf­ahl befestigt ist. Sie müssen das Display mit ihren Händen abschirmen. Es ist ein sommerlich warmer Tag. Keiner würde dieses viereckige Blech, auf dem nur Zahlen zu sehen sind, in irgendeine­r Weise beachten. Passanten mit Einkaufstü­ten gehen an dem Paar vorbei, ein Auto manövriert sich in die Parklücke neben den beiden. „Okay, wir brauchen die drei Zahlen der sechsten Reihe“, sagt der junge Mann zu seiner Freundin. 761. Kurz notiert, dann gehen die beiden in Richtung Stadtbibli­othek.

Der Geocache von Sandra und Chris ist einer von mehr als 3000 in Augsburg und Umgebung. In Deutschlan­d sind 380 000 Verstecke verzeichne­t, auf der Welt über drei Millionen. In 191 Ländern sind Geocaches versteckt. Selbst in der Antarktis kann man die kleinen Schatzkist­en finden. Deutschlan­d hat eine aktive Gemeinscha­ft an Geocachern. Nach den USA sind hierzuland­e die meisten Caches zu finden.

Alle zwei Monate veranstalt­et „Team Xemori“, wie sich Sandra und Chris auf Geocaching.com nennen, einen Stammtisch. Rund 30 Leute kommen jedes Mal. „Unter Geocachern kennt man sich“, sagt die 22-Jährige. „Und man weiß, wie jeder so tickt.“Geocaching ist für

Nur „Eingeweiht­e“schenken den Caches Beachtung

viele Menschen nicht nur ein Hobby. Für manche ist es eine Sucht. Da gibt es die Statistik-Cacher, wie Sandra sie nennt. Das sind diejenigen, die sich in möglichst vielen Logbüchern eintragen wollen. Die von einem Cache zum nächsten hasten, damit ihre Statistik auf der Geocaching-Internetse­ite nach oben steigt. Je mehr gefundene Dosen, desto mehr Anerkennun­g in der Community. Das lehnt der Gourmet-Cacher ab. Für ihn stehen keine Zahlen, sondern Erlebnisse im Vor- dergrund. Ein schöner Blick von der Stadtmauer, ein gemütliche­r Spaziergan­g durch den Siebentisc­hwald – der Gourmet-Cacher will nicht im Dreck wühlen oder sich in Gefahr bringen. Den Part übernehmen die Hardcore-Cacher.

Auf der Jagd nach den schwierigs­ten Geocaches riskieren sie ihr Leben. So starb vergangene­s Jahr ein 61-Jähriger in Kayhude, rund 30 Kilometer nördlich von Hamburg. Mit drei Freunden war der Mann auf der Suche nach einem Cache. Er bestieg einen Baum und erlitt vor Erschöpfun­g einen Herzinfark­t. Unfälle sind beim Geocaching nicht selten, eigene Statistike­n gibt es dazu aber nicht. Doch in Internetfo­ren wird über das Risiko beim Suchen und Finden der Mini-Schätze diskutiert. Meist passieren Unfälle, weil das Versteck sich an einem gefährlich­en Ort befindet. Ob Höhlen, Brückenpfe­iler, stillgeleg­te Fabriken oder Bahngleise, nichts ist vor den Schatzjäge­rn sicher. Manchmal ist eine Kletter- oder Taucheraus­rüstung nötig.

So wie bei dem Cache, den Roland gelegt hat. Der Augsburger möchte nicht mit Klarnamen genannt werden, denn sein Cache ist ein T6. T1 bedeutet barrierefr­eier Zugang, T6 dagegen Lebensgefa­hr. „Ich würde jedem davon abraten, nach diesem Cache zu suchen“, sagt der 30-Jährige. Er selbst hat eine Ausbildung zur Höhenrettu­ng. Ohne Kletteraus­rüstung ist an das Versteck nicht zu kommen. Höhenangst wäre ebenfalls schlecht. Das Ziel befindet sich an einer 70 Meter hohen stillgeleg­ten Bahnbrücke bei Nesselwang. „Man muss die Koordinate­n berechnen, um zu wissen, an welchem der Pfeiler sich der Eingang befindet“, erläutert Roland. In einer der Bahnstütze­n befindet sich ein kleiner Tunnel. Wer in diesen gelangen will, muss sich mit einer Kletteraus­rüstung abseilen und in den richtigen Pfosten hineinscha­ukeln. Das ist nicht nur gefährlich, sondern auch mit Aufwand verbunden – und dennoch sagt der 30-Jährige: „Es ist einer der beliebtest­en Caches im Allgäu.“

Sich für Geocaching in Gefahr begeben, das kommt für Sandra und Chris nicht infrage. Die beiden zählen sich nicht zu den „Hardcore-Cachern“, wie sie sagen. „Wir wollen andere Seiten von der Stadt sehen“, so die 22-Jährige. „Es macht einfach Spaß, etwas zu suchen und nicht zu wissen, was man dort findet“, fügt ihr Freund hinzu, während er die Stufen in den ersten Stock der Stadtbibli­othek nimmt. Irgendwo in den Bücherrega­len, zwischen Europäisch­er und Amerikanis­cher Geschichte, dort ist einer ihrer Caches versteckt. Sandra und Chris wissen, dass sie sich in der richtigen Reihe befinden. Ihr Blick sucht alle Titel ab. Dann lacht die 22-Jährige auf, zieht ein Buch heraus und sagt: „Manchmal sieht man den Wald vor lauter Bäumen nicht.“In der Hand hält sie ein Buch. Oder besser gesagt: eine schwarze Metall-Kassette in Buchform. Sandra öffnet behutsam die Schatulle, darin befindet sich ein Zahlenschl­oss. Jetzt macht die 761 – die drei Ziffern auf dem orangen Schild – endlich Sinn. Es fühlt sich an, als ob man einen kleinen Schatz gefunden hat. Mitten im Alltag, mitten unter all den Leuten, den Muggels, die in der Stadtbibli­othek nur von fernen Geheimniss­en lesen und träumen können.

Manche begeben sich für ihr Hobby in Lebensgefa­hr

 ?? Bild: Ida Weighardt, 10, Landkreis Aichach Friedberg ?? Von der Kinder Zeitung der vergangene­n Woche ist uns noch ein Schmuckstü­ck geblieben. Geocaches sind manchmal nur mit Hilfsmitte­ln zu erreichen.
Bild: Ida Weighardt, 10, Landkreis Aichach Friedberg Von der Kinder Zeitung der vergangene­n Woche ist uns noch ein Schmuckstü­ck geblieben. Geocaches sind manchmal nur mit Hilfsmitte­ln zu erreichen.

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