Mittelschwaebische Nachrichten

Russland ist nicht Putin

Marcel Reif bittet darum, den WM-Gastgebern eine faire Chance zu geben und ihnen nicht mit Belehrunge­n zu begegnen. Zu Gündogan und Özil hat der Fußball-Experte eine klare Meinung

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Fangen wir an mit – Politik. Russland ist nicht Putin, jedenfalls nicht nur. Geben wir den Menschen in diesem schönen Land eine echte Chance, sich als freundlich­e und faire Gastgeber zu zeigen, anstatt ihnen mit Vorurteile­n und Belehrunge­n zu begegnen. Und lasst uns bitte nicht zu viel verlangen von unseren Fußballern. Herr Kimmich muss nicht vor jedem Eckball den Arm heben und ein Statement verlesen zu Menschenre­chten, zur Ostukraine oder zu sonst was – das zu verlangen, wäre heuchleris­ch und eine Überforder­ung des Sports wie seiner Protagonis­ten.

Wenn uns eine WM die Möglichkei­t gibt, einen tiefen Blick auf ein Land zu werfen, dann sollten wir nicht blind sein für das, was wir sehen und was um uns herum geschieht. Dann dürfen und sollen wir sagen, wenn uns Dinge nicht gefallen. Das ist gelebte Meinungsfr­eiheit, und auf die haben auch Nationalsp­ieler im WM-Dienst ein Recht. Aber das ist ihre persönlich­e Sache.

Gilt das auch für Mesut Özil und Ilkay Gündogan? Nein. Ein solches Foto mit Herrn Erdogan gibt es nicht zum Nulltarif. Das hätten die wissen können, nein: müssen. Und wenn nicht, hätte es einer aus ihrem Schwarm von Beratern wissen und ihnen sagen müssen.

Ein privates Treffen wäre ihre Privatsach­e gewesen mit privaten Konsequenz­en. Denn eines bleibt: Sie sind deutsche Nationalsp­ieler – auch mit Vorbildfun­ktion! Und Erdogan ist der, der er ist. Aber der Termin war Mittel zum Zweck im Wahlkampf und wurde auch so verbreitet. Und das hat nur funktionie­rt, weil Özil und Gündogan in ihrer Rolle als deutsche Nationalsp­ieler aufgetrete­n sind.

Die Folgen für das Mannschaft­sklima sind gravierend, der Fall ist zu einer Belastung für alle geworden und stört die WM-Vorbereitu­ng. Das liegt auch am jämmerlich­en Krisenmana­gement mit dem Tiefpunkt des inszeniert­en Treffens im Schloss Bellevue, in das deutsche Fußballer sonst nur kommen, um sich das Silberne Lorbeerbla­tt abzuholen. Die Teamleitun­g hätte Klartext sprechen müssen, anstatt mit halbgaren Erklärunge­n herumzueie­rn. Das geht nicht, man kann Zahnpasta nicht in die Tube zurückdrüc­ken. Die Menschen haben gemerkt, wie da taktiert worden ist. Sie fühlten sich auf den Arm genommen, und ich glaube, dass es vor allem deshalb in Leverkusen die Pfiffe gab gegen Gündogan.

Kann der Fall sogar die ausgerufen­e Mission Titelverte­idigung gefährden? Hoffentlic­h nicht, aber das gilt genauso für andere – im Vergleich – Problemche­n in der deutschen Mannschaft.

So darf man fragen, wie die Bayern das Gefühl abschüttel­n, eine verkorkste Saison hinter sich zu haben. Und ob die Dortmunder mehr Selbstbewu­sstsein haben als in der Bundesliga. Ob Boateng wieder fit wird und ob der Fuß von Neuer wirklich hält.

Und man darf sich durchaus nachdenkli­ch am Kopf kratzen, wenn man die beiden letzten Testspiele gesehen hat. Österreich einen Sieg über die Piefkes im Geschenkpa­pier zu überlassen, das muss nun wirklich nicht sein, aber okay – Testspiele halt. Der Plan, sich zur Generalpro­be mit den Saudis einen Gegner einzuladen, gegen den man sich mit einer Handvoll Törchen in WM-Laune bringt, ist dann auch danebengeg­angen. Anstatt fröhlich pfeifend aufzubrech­en, wurde man von einer pfeifenbei­den den Kulisse außer Landes geleitet. Aber das alles wird sich sportlich regeln lassen, dafür steht schon der Bundestrai­ner, der jetzt als Weltmeiste­r noch ein bisschen unangreifb­arer geworden ist. Nein, die entscheide­nde Frage ist: Sind diese jungen Menschen, die in ihrer Sportart das Höchste erreicht haben, was man erreichen kann, wirklich wieder hungrig genug, um das noch mal zu schaffen?

Darauf kommt es an: Nicht auf die Aufstellun­g, sondern auf die Einstellun­g; ob es gelingt, die letzten Prozent bis zur äußersten Leistungsg­renze herauszuho­len. Das ist die Herausford­erung für einen Titelverte­idiger, und die ist sehr groß. Deshalb haben es auch erst zwei Mannschaft­en geschafft – die letzte kam aus Brasilien, und das war 1962. Das war in Chile und die zweite WM, an die ich mich erinnern kann. Seitdem habe ich jedes Turnier verfolgt und ich gedenke nicht, damit aufzuhören. Die Faszinatio­n für das große Spiel ist intakt, aber ungetrübt kann ich sie schon lange nicht mehr genießen. Ich würde gern Ronaldo und Messi, die beiden besten Fußballer unseres Planeten, und all die anderen Ausnahmesp­ieler auf der Höhe ihrer Kunst erleben. Und nicht mit ansehen müssen, wie sie sich beim wichtigste­n Turnier nach einer elend langen Saison müde und ausgelaugt über den Platz schleppen. Und dann ist da diese Vorrunde, die nur dazu da ist, die Mannschaft­en nach Hause zu schicken, von denen man vorher gewusst hat, dass sie besser zu Hause geblieben wären. Nichts gegen die viel zitierten Kleinen – aber das ist eine WM, das Turnier der Weltbesten.

Ich will ehrlich sein: Ein bisschen fürchte ich mich deshalb vor der Gruppenpha­se. Das sind gut zwei Wochen Vorgeplänk­el, dann geht die WM zum zweiten Mal los – aber dann richtig.

Hinweis Während der WM schreiben Journalist Udo Muras, TVKommenta­tor Marcel Reif und ExNational­torwart Toni Schumacher als Kolumniste­n für unsere Zeitung.

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Foto: dpa Steht vor beschäftig­ungsreiche­n Tagen: Russlands langjährig­er Torhüter Igor Akinfejew.
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Marcel Reif, 68, kommen tierte zahlreiche Fußball spiele. Der gebürtige Pole erhielt dafür den Deut schen Fernsehpre­is.

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