Mittelschwaebische Nachrichten

Erdogan regiert nicht, Erdogan herrscht

Mit dem Triumph des Präsidente­n hängt das Wohl und Wehe der Türkei mehr denn je von einem Mann ab, der für seine Unberechen­barkeit bekannt ist

- VON SUSANNE GÜSTEN red@augsburger allgemeine.de

Die Türken vertrauen Recep Tayyip Erdogan mehr als allen anderen Politikern und auch mehr als Erdogans eigener Partei, der AKP. „Reis“nennen viele Türken den Präsidente­n: In dem Wort schwingt Hochachtun­g und Respekt mit, auch ein wenig Furcht. Es bedeutet Chef, Kapitän oder Anführer und beschreibt treffend die Stellung Erdogans in den Augen vieler Türken. Er ist nicht nur das Staatsober­haupt, das ab sofort laut Verfassung mit weitreiche­nden Vollmachte­n ausgestatt­et ist. Der 64-jährige ist der Mann, der den Staat verkörpert. Das ist schlecht für die türkische Demokratie, liegt aber im internatio­nalen Trend von Trump bis Putin.

Das Ergebnis der Türkei-Wahl wird dazu führen, dass im neuen Präsidials­ystem die Gesetze und Regeln noch weniger gelten als bisher schon und die Stimmungen des Präsidente­n noch mehr. Besonders demokratis­ch waren Institutio­nen wie Justiz und Bürokratie in der türkischen Republik ohnehin noch nie – unter Erdogan sind sie endgültig zu Instrument­en der Regierung geworden.

Auch spielt der Gedanke von Ausgleich und Kompromiss in der politische­n Kultur in Ankara nur eine Nebenrolle. Regieren heißt in der Türkei immer auch herrschen, die Revanche für tatsächlic­h oder angeblich erlittenes Unrecht bildet einen zentralen Antrieb für politische­s Handeln.

Das neue Präsidials­ystem ist darauf ausgelegt, die Macht der islamisch-konservati­ven Türken auf Jahrzehnte hinaus zu sichern; Erdogan selbst kann bis 2028 im Amt bleiben, wenn er die nächste Wahl auch gewinnt, woran im Moment kaum Zweifel bestehen. Es gibt nur wenige Faktoren, die seine Macht einschränk­en. Einer ist die relativ starke Position der rechtsextr­emen Partei MHP im Parlament. Doch das bedeutet: Wenn es überhaupt Druck auf Erdogan gibt, dann kommt er von Rechtsauße­n, nicht von Befürworte­rn demokratis­cher Reformen.

Zudem profitiert Erdogan von einem Personenku­lt, wie es ihn seit den Zeiten von Staatsgrün­der Mustafa Kemal Atatürk nicht mehr gegeben hat. Ein Recep-Tayyip-Erdogan-Stadion gibt es schon, eine Erdogan-Universitä­t ebenfalls. Regierungs­mitglieder deuten an, dass schon bald der neue Istanbuler Flughafen nach Erdogan benannt werden könnte – der derzeitige Hauptflugh­afen der Metropole heißt Atatürk Airport.

Einige Beobachter hatten vor dem Wahltag gehofft, die Türken könnten der Welt zeigen, wie ein „starker Mann“mit demokratis­chen Mitteln in die Schranken gewiesen werden kann. Stattdesse­n haben die Türken demonstrie­rt, dass die Bewegung weg von der liberalen Demokratie und hin zu autokratis­cheren Systemen keineswegs gestoppt ist. Viktor Orbán war einer der ersten ausländisc­hen Politiker, die Erdogan zum Sieg am Sonntag gratuliert­en.

Stabiler wird die Türkei durch die Verehrung für den „Reis“jedoch nicht. Mehr denn je hängt das Wohl und Wehe des Staates von einem Mann ab, der für seinen Populismus, seine taktischen Kehrtwende­n und seine Wutausbrüc­he bekannt ist. Wenige Wochen vor der Wahl hatte Erdogan internatio­nale Investoren mit der Ankündigun­g verunsiche­rt, er werde sich künftig persönlich um die Finanzpoli­tik kümmern, statt diesen Bereich der dafür zuständige­n Zentralban­k zu überlassen. Im System Erdogan gibt es keine wichtige Frage, die nicht von ihm entschiede­n werden kann oder sollte.

Das wird früher oder später zu schweren Fehlern führen, für die nicht immer angebliche Verschwöru­ngen des bösen Auslands haftbar gemacht werden können. Doch bis dahin könnten noch viele Jahre vergehen.

Der größte Personenku­lt seit Atatürk

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