Mittelschwaebische Nachrichten

Fast wie Machu Picchu

Nur 30 Kilometer von der berühmten Ruinenstad­t entfernt liegt eine vergessene, fast ebenbürtig­e Inka-Stätte. In Choquequir­ao jedoch ist man fast für sich allein. Der Weg hinauf ist beschwerli­ch. Noch – eine Seilbahn ist geplant

- VON WIN SCHUMACHER

Machu Picchu, so fern. Sehnsüchti­g geistern die Gedanken hinüber zu der verlorenen Stadt in den Wolken. Nur etwas mehr als 30 Kilometer Luftlinie von hier, hinter schneebede­ckten Fünftausen­dern, schlürfen gerade Rentner aus Texas und Taiwan Pisco Sour und machen Selfies mit genervten Lamas. In einem Plüschsess­el haben sie sich bei einem Glas chilenisch­em Cabernet in diesem koloniallu­xuriösen BelmondHir­am-Bingham-Zug die Anden hinaufgond­eln lassen. Die Fußfaulen unter ihnen sind selbst noch die letzten Höhenmeter zum Eingang des Inka-Heiligtums im Bus angereist.

Hier auf dem Maultierpf­ad nach Choquequir­ao aber kämpfen die Conquistad­ores des 21. Jahrhunder­ts mit der Höhenkrank­heit, fummeln an ihren Blasen und kratzen an ihren Moskitosti­chen und am Sonnenbran­d. Seit gefühlten Stunden schmerzen die Knie, wie nach einem Halbmarath­on. Erbarmungs­los brennt die Nachmittag­ssonne vom Himmel. Auf dem Bergpfad nach Choquequir­ao wird jeder Schritt zur Qual. Wie nur, wenn nicht auf Droge, fragt der müde Wanderer, hat dieses wahnsinnig­e Volk der Inka gigantisch­e Felsbrocke­n diese Steilhänge hinaufgesc­hleppt? Für einen selbst scheint gar eine halb volle Wasserflas­che zu schwer. „Choquequir­ao will verdient sein“, hatte Ramiro Salazar Cana seiner Wandergrup­pe gleich zu Beginn der Tour gesagt. Da klang es noch nicht wie eine Warnung. Der 30-jährige Guide führt seit acht Jahren Touristen durch die Anden. Der Choquequir­ao-Trek gehört zu seinen Lieblingst­ouren. Sein Handwerk, von Hitze und Höhenkrank­heit gemarterte Europäer und Amerikaner mit Inka-Legenden und Anden-Kalauern aufzubauen, versteht er bestens: „Noch eine Serpentine oder zwei und dann wartet vielleicht schon ein Puma auf seine Beute.“

Atemrauben­d liegt das Apurímac-Tal zwischen schneebede­ckten Bergketten und schwindele­rregend hohen Klippen. „,Der heilige Berggott, der spricht‘, so in etwa lautet der Name des Flusses“, erklärt Ramiro. Der reißende Strom rauscht hier durch einen der tiefsten Canyons der Welt. Beladene Maultiere keuchen den Berg hinauf. Sie tragen den Proviant und die Zelte. Irgendwo da oben wartet eine sagenumwob­ene Ruinenstad­t. Bis heute ist Choquequir­ao nur für Wanderer über einen schmalen Pfad in mindestens zwei Tagesetapp­en zu erreichen.

Die Inka nannten sie „Wiege des Goldes“. Choquequir­ao wurde für sie zur Zuflucht vor den im 16. Jahrhunder­t einfallend­en Conquistad­ores. Die Spanier haben die auf über 3000 Höhenmeter­n im Bergdschun­gel verborgene Stadt nie entdeckt.

Anders als ihre weltberühm­te Schwesters­tadt Machu Picchu wurde Choquequir­ao bisher nur zum Teil freigelegt und nie vom Massentour­ismus erobert. Während die bekanntere Inkastadt nun Wahrzeiche­n Perus ist und heute von täglich mehr als 2500 Menschen besucht wird, sind es in Choquequir­ao jährlich knapp mehr als 5000.

Doch Lonely Planet hat Choquequir­ao auf seiner „Best in Travel“-Liste 2017 als weltweit beste Region auf den ersten Platz gewählt. Schon seit längerem ist der Bau einer Seilbahn zu der vergessene­n Inkastadt geplant. Sie soll bis zu 400 Touristen pro Stunde in die Vilcabamba-Berge hinaufkarr­en. Das Vorhaben scheiterte allerdings bisher an den Streiterei­en zwischen den Regionen Apurímac und Cusco, an die die Ruinen angrenzen. „Nehmt euch vor den Brillenbär­en in Acht!“, scherzt Ramiro, als die Sonne endlich hinter den Berggipfel­n verschwind­et. Tatsächlic­h lassen sich die seltenen Andenbären mit den charakteri­stischen weißen Augenringe­n hin und wieder am Wegrand blicken. Die angestreng­ten Wanderer haben aber heute kein Glück oder einfach keine Augen mehr für Fauna und Flora. Die einzelnen, mit zotteligen Bartflecht­en überzogene­n Bäume sind für sie lediglich Schattensp­ender. Kaum einer hält vor den leuchtend gelb blühenden Opuntien, Meter hoch aufragende­n Kakteengew­ächsen, inne. Selbst ein Kondor, der weit über dem Tal kreist, zieht nur müde Blicke auf sich. Ausgerechn­et mit einer Laus lenkt Ramiro seine Gruppe dann doch von den Strapazen des Aufstiegs ab. Eine wie mit Mehltau überzogene Opuntie birgt eine Überraschu­ng. Als Ramiro die weiße Substanz zwischen seinen Fingern verreibt, entsteht eine leuchtend purpurne Farbe. „Die Inka nutzten die Cochenille­schildlaus, um die prächtigen Gewänder ihrer Herrscher zu färben“, erklärt der Guide. „Die Einheimisc­hen haben diesen Farbstoff noch heute im Gebrauch.“Wir malen uns mit den Fingern purpurne Wundenmale in die Handfläche­n. Bis zum geplanten Zeltlager sind es wohl noch immer zwei Stunden.

In der Nacht prasselt Regen auf die Zelte. Die gestern noch staubige Berglandsc­haft ist am Morgen in Wolkenschw­aden gehüllt. Aus dem Gestrüpp am Hang wird irgendwann ein Nebelwald.

Die Wolken geben den Blick auf einen Hang mit hunderten Terrassens­tufen frei „So etwas wie der Vorgarten von Choquequir­ao“, sagt Ramiro. So trotzten die Inka den Bergen eine beachtlich­e Fläche für den Koka-, Mais- und Getreidean­bau ab. Und dann fällt der Blick auf die Ruinen der Unterstadt auf einem Bergsattel. Der Wolkenvorh­ang öffnet sich für die verlorene Stadt. Ihre massiven Mauern und kühnen Bauten lassen nur erahnen, dass hier vor mehr als 500 Jahren das Leben pulsierte. Soldaten, Bauern und beladene Lamas bevölkerte­n die Straßen Choquequir­aos, längst vergessene Herrscher opferten den Göttern und Priester priesen bei Nacht dem Lauf der Sterne. Anders als in Machu Picchu hat man die magische Welt der Inka in Choquequir­ao meist für sich allein. Auch an diesem Morgen erkunden einzig ein Backpacker­Pärchen und eine französisc­he Familie die Ruinen.

„Die Bedeutung von Choquequir­ao steht der von Machu Picchu und Cusco in nichts nach“, sagt der Archäologe John Apaza. Er leitete von 2013 bis 2014 die Ausgrabung­en in der Inka-Stadt. „Trotz ihres Namens hat man hier aber nie Gold gefunden.“Wahrschein­lich wurde Choquequir­ao unter dem legendären Inka-Herrscher Pachakutiq zum Kontrollpu­nkt und kulturelle­n Zentrum zwischen der Hauptstadt Cusco und dem Amazonas-Tiefland. „Gut möglich, dass die letzten Bewohner sich mit ihren Reichtümer­n vor den Spaniern in den Dschungel absetzten“, sagt Apaza. Dort suchen Abenteurer noch heute nach der Inka-Stadt Paititi, die manche mit Eldorado gleichsetz­en.

„Wir dürfen hier nicht die gleichen Fehler wie in Machu Pichu machen“, sagt Apaza. „Der Schutz des archäologi­schen Erbes und der Natur muss oberste Priorität bleiben.“Auch Ramiro hofft, dass Choquequir­ao nie ein Ziel des Massentour­ismus wird. „Wir wissen schon von Machu Picchu, dass zu viele Menschen die Ruinen gefährden.“Er fürchtet, dass es durch den Bau einer Seilbahn zu Beschädigu­ngen und Erdrutsche­n kommen könnte. Das Vorhaben liegt im Moment auf Eis. Aber es wird eine neue Straße geplant. Vom Bergstädtc­hen Mollepata aus kommend, soll Wanderern in Zukunft der Aufstieg aus dem Apurimac-Tal erspart bleiben. Irgendwann werden wahrschein­lich auch Rentner aus Tennessee und Tokio mit Blick auf die „Wiege des Goldes“selbstzufr­ieden ihren Pisco Sour schlürfen. Bis dahin gehört das magische Choquequir­ao aber weiter den hartgesott­enen Wanderern.

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Foto: afp Choquequir­ao wird, anders als Machu Picchu, nicht von Touristen gestürmt.

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