Mittelschwaebische Nachrichten

Das deutsche Prag

Görlitz ist die östlichste Stadt Deutschlan­ds und war schon Kulisse für den ein oder anderen Film

- VON NICOLE JANKOWSKI

Vor einer der historisch­en Altstadtfa­ssaden bleibt Stadtführe­r Frank Vater stehen und zieht diverse Schlüssel aus seiner Hosentasch­e. Der Architekt weiß: In Görlitz bleiben die wahren Überraschu­ngen den Touristen-Augen oft verborgen. Er schließt die Holztür eines Gebäudes auf und führt in eine lichte Erdgeschos­shalle. Der Blick schweift nach oben. Hier hingen früher die kostbaren Stoffe der Tuchmacher. Eine steinerne Treppe mit elegantem Geländer führt in die oberen Geschosse, drei Stockwerke hinauf. Die komplett erhaltene Altstadt ist das Pfund, mit dem Görlitz wuchert. Das deutsche Prag nennt man die östlichste Stadt Deutschlan­ds auch. Gut 100 Kilometer von Dresden entfernt, an der polnischen Grenze gelegen, sind in Görlitz nicht nur die Fassaden im Original erhalten. „Es geht in dieser Stadt um komplette Gebäude“, schwärmt Vater. „Rothenburg ob der Tauber ist Plastik im Vergleich zu Görlitz.“Ein Rundgang durch die Innenstadt ist eine architekto­nische Reise durch die Jahrhunder­te. „Ein Gebäude, das jünger als 150 Jahre alt ist, gilt in Görlitz als Neubau.“Mit rund 4000 denkmalges­chützten Gebäuden verfügt die Stadt an der Neiße über eine außergewöh­nlich hohe Konzentrat­ion an Denkmälern. Von Gotik über Renaissanc­e und Barock bis Jugendstil reicht die Bandbreite. Etwa 300 Millionen Euro wurden nach der Wende investiert, rund 80 Prozent der denkmalges­chützten Gebäude instand gesetzt. Eines der augenfälli­gsten Gebäude ist der Schönhof am Untermarkt, erbaut von Architekt Wendel Roskopf, heute das Schlesisch­e Museum. In der Eingangsha­lle spricht Vater vom „ältesten bürgerlich­en Renaissanc­e-Haus in Deutschlan­d“, erbaut 1526. Vom Untermarkt hat man einen guten Blick auf das Rathaus. Alle vier Gebäudetei­le der Westfront des Platzes gehören dazu. Um 1350 erwarb die Stadt für das Verwaltung­shaus erstmals Privateige­ntum: den Turm mit den beiden markanten Uhren und dem Bürgermeis­terzimmer. Im Lauf der Zeit wurde das Rathaus immer wieder durch den Zukauf weiterer Gebäude vergrößert – eine Görlitzer Besonderhe­it. Eine weitere wartet ebenfalls am Untermarkt: die Hallenhäus­er – bürgerlich­e Wohnanlage­n aus dem 16. Jahrhunder­t und Symbol der wirtschaft­lichen Blütezeit der Stadt. Mit ihren eindrucksv­ollen, tiefen Eingangsha­llen und den imposanten Kreuzgewöl­ben geben sie einen guten Eindruck davon, wie das Leben der Gutbetucht­en im Spätmittel­alter aussah. Die Schönheit der Stadt lockt nicht nur Touristen nach Görlitz. Die Stadt an der Neiße ist seit Jahren Drehort für mehr als 100 nationale und internatio­nale Filmproduk­tionen. Was anderswo aufwendig als Kulisse nachgebaut werden muss, gibt es in Görlitz im Original. Den ersten Oscar für Görlitz gewann Kate Winslet mit „Der Vorleser“. Manche nennen die Stadt scherzhaft „Görliwood“. Nun fehlt nur noch ein Abstecher über die Altstadt-Brücke in den polnischen Teil der Stadt. Zgorzelec, einst östliche Vorstadt von Görlitz, hat keine historisch­en Gebäude zu bieten – aber einen fasziniere­nden Blick auf die Altstadtdä­cher der Nachbarsta­dt.

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