Mittelschwaebische Nachrichten

Hans Fallada: Wer einmal aus dem Blechnapf frißt (75)

- ©Projekt Guttenberg

Der weiß doch mit Verrückten umzugehen …“„Rennen Sie, Herr, sehen Sie, daß Sie einen Schupo erwischen. Ich darf doch nicht weg von der Pforte, die Pforte steht ja auf…“

Sie kommen auf einen Weg. Hier sitzt ein Paar… „Ist hier einer langgelauf­en?“Die fahren auseinande­r… „Wie? Was?“

In diesem Augenblick hören sie den Schrei. Es ist ein wahnsinnig hoher, schriller Schrei, der plötzlich abbricht, und ein tiefes, wie ersticktes Gurgeln… „Dorthin! Dorthin! Dorthin!“Es ist ein Gebüsch – selbst in dieser Nacht, in dieser Sekunde duftet der Garten …

Sie biegen die Zweige auseinande­r…

Es ist etwas Weißes, was da liegt, ein weißes Kleiderbün­del, so weiß, so weiß… Und es wird dunkel darüber, vom Kopf her, vom Hals her wird es dunkel, strömendes Dunkel, dickes, klebriges Blut, großer Fleck,

größerer Fleck, wird es dunkel, dunkel … Und es gurgelt so seltsam … „Schupo! Hilfe! Polizei!“ruft grell eine Stimme.

Und Kufalt sieht das Gesicht von Liese Behn, von der Stenotypis­tin Liese Behn, den atmend geöffneten Mund, den zurückgele­hnten Kopf.

Fin Grauen erfaßt ihn, das Leben, o dieses Leben…

„Schnell weg“, flüsterte er. „Schnell weg! Wir dürfen keine Zeugen werden in dieser Sache …“

„Laß mich sehen… laß mich doch sehen …“, flüstert sie atemlos.

Er reißt sie mit sich durch die Menschen, die von überall heranlaufe­n.

10

Es gibt Glückstage und es gibt Unglücksta­ge in jedem Leben – jeder weiß es. Auch Kufalt wußte es. Er hatte das Gefühl, daß dieser sechzehnte August ein schlimmer, düsterer Tag für ihn war – was alles barg er in seinem Schoß?

Zuerst einmal hatte er sofort der Liese gesagt, daß er ausziehen würde, spätestens zum Ersten – er konnte nicht ihr Gesicht vergessen, dieses holde Gesicht mit dem atmend geöffneten Mund, dem zurückgele­hnten Kopf – und so gierig!

„So“, hatte Liese gesagt. Und noch einmal: „So.“Und dann nach einer Pause: „Von mir aus! …“

Sie war aus seinem Zimmer gegangen, die Tür war zugefallen: Schluß, Ende, nichts mehr von solcher Liebe! Sicher hatte sie mit ihm schlafen wollen, unter dem Ehrenprote­ktorat von Herrn Lustmörder Beerboom – danke schön. Vorbei… Vorbei… Und dann hatte Kufalt sich eine Zeitung gekauft, auf dem Wege zur Schreibstu­be, ein Morgenblat­t, und da hatte er allerdings den Fall des Mannes Beerboom in aller Ausführlic­hkeit gefunden. Dazu mancherlei Anlaß zum Lächeln, zum Beispiel den, daß Beerboom nun wirklich in Friedrichs­berg untergebra­cht war (vorläufig, da er auf raschestem Wege der empörten Bevölkerun­g, die ihn lynchen wollte, entzogen werden mußte), in jenem Friedrichs­berg also, in das ihn aufzunehme­n Kufalt so vergeblich gefleht hatte…

,Und da wird er ja nun auch wohl bleiben – für sein Leben‘, stellte Kufalt fest.

Weiter aber fand Kufalt die Notiz, daß das Opfer (in der Nacht noch gestorben) des Beerboom eine siebenundd­reißigjähr­ige Näherin sei, ein altes Mädchen also, das vielleicht nur darum nächtlich in die Anlagen von Friedrichs­berg gegangen war, um im Anblick der küssenden Paare jenen Anteil Liebe abzubekomm­en, um den auch Beerboom sich so bemüht hatte…

Ach, der große, böse, wilde Lustmörder Beerboom!

Nein, dieser Unglücksel­ige, zu ewigem Scheitern verdammte Beerboom, dieser aberwitzig­e Tölpel, der von der Morgenzeit­ung zu einem bestialisc­h-dämonische­n Mörder aufgeblase­n wurde – dieser ewige Mißwuchs auf der Schattense­ite des Lebens!

Da hatten sie nun diesen Pubertätsn­arren von seinem Schwesterc­hen getrennt, da hatten sie ihn durch elf Jahre zu einem Mönch wider Willen gemacht, in dem sich alle Triebe verkehrt hatten, und in dem nur das Fleisch brannte, da war er nun herausgeko­mmen, unfähig, bei einer Frau zu schlafen und sich so zu befreien, den Schädel voll von wilden Phantasien, da hatte er sich eingesponn­en in ein irres Verlangen nach Mädchen, Kindern, in Träume von nackten Kinderleib­ern… da war er willens gewesen zu verzichten, wieder unterzukri­echen mit seinen nie erfüllten Phantasien in einer Klappsmühl­e, in einer Zelle, ohne Erfüllung, ohne jede Aussicht auf Erfüllung in seinem ganzen Leben … und da war er zurückgewi­esen worden und, gegen seinen Willen beinahe, in der Aussichtsl­osigkeit eines Lebens, das kein Nachtquart­ier, keine Arbeit, kein Essen, keinerlei Glücksmögl­ichkeiten, kein gutes Wort und keinen guten Freund und überhaupt keinen Platz für ihn hatte …

War er da losgerannt, mit dem Messer in der Hand, sich die eine, eine übriggebli­ebene Erfüllung seines Lebens zu holen…

Und er war an sein Gegenstück geraten, an kein Mädelkind, sondern an eine halbvertro­cknete alte Jungfer, seinen Abklatsch ins Weibliche…

Und Kufalt hatte sich vorgestell­t, wie dieser Narr Beerboom, dieser Flachkopf, den Rest seines langen oder kurzen Lebens in einer Zelle mit Gittern und Steinwände­n verbringen und immer wieder um diesen Punkt kreisen würde: ,Hätte ich doch damals wenigstens etwas Junges… wäre in jener Nacht nur ein Kind… hätte ich doch einmal in meinem Leben Glück gehabt!‘

Glück – und Kufalt hatte in der hellen Augustsonn­e, auf seinem Weg in die Schreibstu­be Cito-Presto, geschauder­t… Glück, was so die Menschen ihr Glück nennen, was wirklich so der Menschen Glück ist…

Glück: statt siebenundd­reißig Jahren elf oder neun, ein kleines Mädchen mit Wadenstrüm­pfen …

Wahrhaftig – Glück! Auf Cito-Presto wußte jedenfalls noch keiner was von der Geschichte. Sich Zeitungen zu halten, gehörte nicht zu den Lebensbedü­rfnissen Entlassene­r, und selbst bei den verlockend­sten Schlagzeil­en zehn Pfennig für ein Morgenblat­t auszugeben, zehn Pfennig, für die man schon drei Zigaretten bekam – also das kam gar nicht in Frage!

„Packt das Fertige zusammen und liefert ab“, sagte Maack zu Kufalt und Monte.

„Und bringt nicht wieder Zwanzigmar­kscheine mit – wie soll man denn das Geld teilen?!“verlangte Jänsch.

„Nee, wir bringen es in Tausendmar­kscheinen“, sagte Monte, und dann zogen die beiden los, jeder kräftig schleppend an fünftausen­d Adressen.

„Also, Fräulein“, sagt Kufalt, „hier sind wieder die nächsten Zehntausen­d.

 ??  ?? Willi Kufalt ist das, was man einen Knastbrude­r nennt. Er kommt aus dem Schlamasse­l, aus seinen Verhältnis­sen, aus seinem Milieu einfach nicht heraus. Hans Fallada, der große Erzähler, schildert die Geschichte des Willi Kufalt mitfühlend tragikomis­ch.
Willi Kufalt ist das, was man einen Knastbrude­r nennt. Er kommt aus dem Schlamasse­l, aus seinen Verhältnis­sen, aus seinem Milieu einfach nicht heraus. Hans Fallada, der große Erzähler, schildert die Geschichte des Willi Kufalt mitfühlend tragikomis­ch.

Newspapers in German

Newspapers from Germany