Mittelschwaebische Nachrichten

In Russland gehen die Uhren anders

- VON TILMANN MEHL time@augsburger allgemeine.de

Zeit ist ein kostbares Gut. Stets ist zu wenig von ihr vorhanden. Am Ende eines Lebens, am Ende einer Klausur. Wenn sich ein Spiel dem Ende zuneigt und es noch gilt, einen Rückstand aufzuholen. Dann wird gehadert mit dem Umgang der Zeit. Hätte sie nicht besser genutzt werden können? In Russland wird vielerorts gelassener auf die Uhr geblickt. Oft auch gar nicht. Wer Probleme mit dem Verständni­s der Einstein’schen Relativitä­tstheorie hat, erhält in Russland kostenlose lebensnahe Nachhilfe. Eine Minute beispielsw­eise entspricht nicht überall auf dem Planeten jenen 60 mitteleuro­päischen Sekunden, die wir bislang als gegeben angenommen haben. Eine russische Minute hat in etwa die Dauer fünf deutscher Minuten. Wenn einem das russische Taxiuntern­ehmen also versichert, der Fahrer sei in einer Minute da, ist es noch problemlos möglich, die Garderobe zu wechseln und sich nochmals zu frisieren.

Das Interessan­te an der russischen Zeit ist, dass sie nicht linear verläuft. So entspreche­n zwei Minuten nicht den uns bekannten zehn Minuten, sondern mindestens elf. Vielleicht aber auch 18. Oder 14. Wird man hingegen um fünf Minuten vertröstet, bedeutet das lediglich, der Taxifahrer hat einen mittelschw­eren Unfall und kommt, nachdem er sein Auto aus der Werkstatt abgeholt hat. Im Restaurant sind fünf Minuten das Chiffre für: „Wir haben Ihre Bestellung leider vergessen, bemühen uns aber so schnell wie möglich, sie zu Ihrer vollsten Zufriedenh­eit zuzubereit­en. Kann aber sein, dass wir für den Koch noch eine Kaution bei der Polizeidie­nststelle hinterlege­n müssen.“

Bestellung­en in Gaststätte­n bringen auf jeden Fall Spannung in den sonst so langweilig­en Alltag. Seitdem es geächtet wird, die Trommel eines Revolvers mit nur einer Patrone zu bestücken und so lange den Abzug zu betätigen, bis sich bei einem der Spieler ein Schuss löst, hat sich eine weniger tödliche Art des Russischen Roulettes etabliert. Nervenkitz­el für Anfänger. Beliebt ist das Wetten, wer wann bedient wird und in welcher Reihenfolg­e das Essen serviert wird. Der Salat gleichzeit­ig mit der Hauptspeis­e. Die Suppe nach der Pizza. Die Nachspeise des Sitznachba­rn noch bevor der eigene Vorspeisen­teller zu Tisch gebracht wurde. Kreativitä­t, unerwartet­e Wendung und Richtungsw­echsel von der Qualität eines Mesut Özils in Hochform. Interessan­t wird es lediglich, wenn es heißt: „Noch fünf Minuten.“

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