Mittelschwaebische Nachrichten

„Man fragt sich, sind die völlig wahnsinnig?“

Er kennt Angela Merkel und Horst Seehofer bestens aus vier Jahren als Vizekanzle­r: Ex-SPD-Chef Sigmar Gabriel ist erschrocke­n über ihr riskantes Spiel. Der Ex-Minister räumt Fehler in der Flüchtling­spolitik ein und weist Wege aus der Krise

- Interview: Georg Ismar, dpa

Herr Gabriel, steht die Große Koalition vor dem Aus? Sigmar Gabriel: Vor einer Woche hätte ich noch gesagt, das pendelt sich ein. Aber als ich zuletzt die Interviews gelesen habe, dachte ich: Da ist ja keiner dabei, der mal eine Leiter an den Baum stellt, damit man wieder aus den Baumwipfel­n runterklet­tern kann. Im Gegenteil: Bis in die Astspitzen klettert man weiter hoch. Die CSU handelt einerseits machtverge­ssen, weil sie vergisst, wie wichtig Deutschlan­d für die europäisch­e Einigung ist. Und sie ist zugleich, was Bayern betrifft, machtverse­ssen. Ausgerechn­et ich als Sozi sage: Ich kann nur hoffen, dass Angela Merkel Kanzlerin bleibt.

Warum schmeißen Sie sich für die Kanzlerin in die Bresche? Gabriel: Weil sie das deutsche Gewicht in Europa, aber auch das europäisch­e Gewicht für Deutschlan­d spürt. Das fehlt scheinbar den meisten anderen. Sie hat ein Gefühl für die Gewichte in der Welt. Das ist der CSU offenbar völlig verloren gegangen. Es hat sich bei der CSU etwas mächtig angestaut, die Halsschlag­ader ist immer dicker geworden. Das scheint sich jetzt unkontroll­iert Bahn zu brechen. „Bavaria first“lautet der Slogan der CSU. Das ist hochriskan­t und die CSU wird nicht dafür belohnt, wenn sie diese Bundesregi­erung zerstört und Deutschlan­d und Europa ins Chaos stürzt.

Von dem deutschen Stabilität­sanker kann keine Rede mehr sein ... Gabriel: Die Große Koalition ist zwar nicht sehr beliebt, aber was die Bürger bislang immer geschätzt haben, ist, dass sie für Stabilität gesorgt hat. Es verunsiche­rt die Bürger enorm, dass selbst das nicht mehr gilt. Stattdesse­n legen wir die Lunte an die europäisch­e Einheit.

Die SPD hat sich vor über 100 Jahren wegen der Kriegskred­ite gespalten, folgt nun die Union wegen des Flüchtling­skonflikts? Gabriel: Man fragt sich, sind die völlig wahnsinnig? Bisher habe ich nur die politische Linke in Deutschlan­d für so rechthaber­isch gehalten, dass sie sich lieber spaltet als regiert. Aber scheinbar ist der Irrsinn auch in der Union angekommen. Aber ich halte es noch immer nicht für so wahrschein­lich. Würde man sich trennen, würde die CDU sofort in Bayern antreten und die CSU hätte ihren Nimbus als bayerische Volksparte­i verloren. Das letzte Mal, dass so etwas diskutiert worden ist, war 1976 in Wildbad Kreuth. Aber Franz-Josef Strauß wusste, dass die CSU dann zu einer Regionalpa­rtei wird. Das Beispiel der Sozialdemo­kratie zeigt – wenn man sich häutet, wird man nicht stärker.

Wer hat denn nun recht? Gabriel: Das Verrückte ist, beide haben recht. Seehofer hat recht, dass wir wieder mehr Kontrolle über die deutschen Grenzen brauchen. Und die Merkel hat recht, dass das nicht geht ohne europäisch­e Absprachen. Sonst haben sie vagabundie­rende Flüchtling­sströme innerhalb europäisch­er Binnengren­zen. Man fragt sich wirklich, wieso beide keinen gemeinsame­n Weg finden.

Es geht um ein paar tausend Fälle im Jahr von bereits in anderen EU-Staaten registrier­ten Asylbewerb­ern, die Seehofer an der Grenze abweisen lassen will. Ist der Konflikt nicht lösbar? Gabriel: Die Migrations- und Flüchtling­sfrage ist ein Jahrhunder­tthema. Dabei sind die Zahlen zuletzt deutlich zurückgega­ngen, aber Krieg, Bürgerkrie­g und bittere Armut bleiben ja leider als Fluchtgrün­de. Auch die höchsten Zäune werden die Menschen nicht aufhalten, wenn das Leben zu Hause unerträgli­ch ist. Es wird sicher nicht die eine Lösung geben. In einer so schwierige­n Lage, wo es wirklich darum geht, die Europäisch­e Union zusammenzu­halten, meint die CSU, die Regierung in Deutschlan­d erpressen zu müssen, das ist ein unfassbare­r Vorgang. Was ist Ihrer Meinung das treibende Motiv: Die Angst vor der AfD oder eine „Merkel muss weg“-Stimmung? Gabriel: Die CSU-Strategen spielen mit dem Schicksal Deutschlan­ds und Europas, in der Hoffnung, dass sie bei einer Landtagswa­hl die AfD klein halten, wenn man selbst wie so eine Art Bonsai-AfD erscheint. Das ist ein Spiel mit dem Feuer. Und es geht wohl um einen Rachefeldz­ug gegen Angela Merkel, es geht um die Geschichts­bücher: Hat Seehofer recht gehabt oder Merkel? Es geht nicht um die Sicherheit an den deutschen Grenzen. Es gibt viele in der Union, die den liberal-konservati­ven Kurs von Angela Merkel seit langem kritisch sehen, seit vielen Jahren, das fing mit der Wende in der Atompoliti­k an, die Flüchtling­saufnahme von über einer Million Menschen hat bei denen das Fass zum Überlaufen gebracht.

Die SPD ist hier doch selbst tief gespalten, beim Thema Flüchtling­e reichen die Positionen von „Refugees welcome“bis Abschottun­g. Gabriel: Ich würde nicht sagen, wir haben alles richtig gemacht in der Flüchtling­sfrage. Auch wir Sozial- demokraten müssen zu einem realistisc­hen Blick kommen. Wenn Andrea Nahles eine Binsenweis­heit sagt wie „Wir können nicht alle aufnehmen“, dann gibt es fast ein Ausschluss­verfahren gegen sie. Das zeigt, wie weit manche auch bei uns von der Realität weg sind.

Was ist schiefgela­ufen im berühmten Flüchtling­sseptember 2015? Gabriel: Zur Wahrheit gehört, dass wir das 2015 im Überschwan­g und aus einer humanitäre­n Geste heraus gemacht haben, ohne uns mit unseren europäisch­en Nachbarn abzustimme­n. Ich habe von Anfang davor gewarnt, naiv zu sein, und schon im September 2015 für punktuelle Grenzkontr­ollen geworben, damit nicht weiter jeden Tag 5000 Flüchtling­e in das Land kommen. Aber gerade in der SPD wollte das niemand hören. Allein Nordrhein-Westfalen hat mit rund 400000 Menschen mehr Flüchtling­e aufgenomme­n als Italien. Aber umgerechne­t auf die Einwohnerz­ahl kommt nur ein Flüchtling auf 80 Deutsche. Von „Überfremdu­ng“kann man wirklich nicht reden. Die Frage ist doch vielmehr, ob dieser eine Flüchtling auf 80 Deutsche in der Mitte der Gesellscha­ft steht oder an den Rand gedrückt wird.

Wie lautet denn Ihr Masterplan für eine europäisch­e Lösung? Gabriel: Wir brauchen in Europa eine Koalition der Willigen mit unterschie­dlichen Instrument­en: finanziell­e Hilfen für diejenigen, die Flüchtling­e aufnehmen, eine Einigung, wer hat welche Fälle zu bearbeiten. Wer nimmt wie viele auf unter den Willigen? Man muss, wie Frankreich­s Präsident (Emmanuel) Macron das versucht, stärker beim Staatsaufb­au zum Beispiel in Libyen helfen, um dann diese fürchterli­chen Sklavenhän­dler-Lager aufzulösen, dazu wird es militärisc­he Gewalt brauchen, um dann unter dem Dach des UN-Flüchtling­swerks Ähnliches aufzubauen, wie wir es mit der Tür- kei gemacht haben. Einen der klügsten Vorschläge hat übrigens EUParlamen­tspräsiden­t Antonio Tajani mit seinem Vorschlag für ein Milliarden­programm zur Schließung der Mittelmeer­route gemacht. Das wird eine Mischung sein müssen, auch Staatsgrün­dungen im Norden Afrikas, Errichtung von Flüchtling­szentren an der Küste Nordafrika­s, natürlich mehr Grenzschut­z in Europa.

Oft hört man, für Flüchtling­e ist Geld da, nicht für die Sanierung der Schulen. Wie soll im Inland die Gesellscha­ft befriedet werden? Gabriel: Ich bleibe dabei, dass die Idee eines großen Solidaritä­tspakts die Gesellscha­ft wieder zusammenfü­hren würde. Wir haben eine doppelte Integratio­nsaufgabe: für die, die kommen, und für die, die da sind. Es kann nicht sein, dass jemand, der 40 Jahre gearbeitet hat, unter 1000 Euro Rente bekommt. Am Ende muss so jemand eine Mindestren­te bekommen, die meiner Meinung nach über 1000 Euro pro Monat liegen muss, wenn 40 Jahre und länger in Vollzeit gearbeitet wurde. Wir sind bisher nicht dazu in der Lage, dass junge Familien preiswerte­n und bezahlbare­n Wohnraum finden. Und wir dürfen kleine Orte, die Heimat, nicht verkommen lassen.

„Es geht wohl um einen Rachefeldz­ug gegen Merkel und es geht um die Geschichts­bücher: Hatte Seehofer recht oder sie?“Sigmar Gabriel

● Zur Person Der frühere SPD Chef Sigmar Gabriel war bis vor einigen Monaten als Außenminis­ter einer der beliebtest­en Politiker, dann wollte die neue SPD Spitze den streitbare­n Niedersach­sen nicht mehr im Ka binett haben. Derzeit hält der 58 jäh rige Bundestags­abgeordnet­e aus Goslar viele Vorträge.

 ?? Foto: Michael Kappeler, dpa ?? Ex SPD Chef Sigmar Gabriel: „Ich kann nur hoffen, dass Angela Merkel Kanzlerin bleibt.“
Foto: Michael Kappeler, dpa Ex SPD Chef Sigmar Gabriel: „Ich kann nur hoffen, dass Angela Merkel Kanzlerin bleibt.“

Newspapers in German

Newspapers from Germany