Mittelschwaebische Nachrichten

Jedes Jahr ein bisschen mehr – aber nicht genug?

Der Mindestloh­n steigt in zwei Schritten bis auf 9,35 Euro. Sozialverb­änden fällt die Erhöhung jedoch zu gering aus

- VON MARTIN FERBER

Berlin Jan Zilius, einst Personalvo­rstand beim Energiekon­zern RWE und seit bald drei Jahren Vorsitzend­er der neunköpfig­en Mindestloh­nkommissio­n, kann seine Zufriedenh­eit nicht verbergen. „Der gesetzlich­e Mindestloh­n ist ein Stück Normalität in Deutschlan­d geworden“, betont er. Niemand stelle ihn mehr infrage, mehr noch, „die Diskussion­en werden sachlicher geführt als dies noch vor seiner Einführung der Fall war“. Und so kann Zilius mit einem gewissen Stolz verkünden, dass sich die Vertreter der Arbeitgebe­r wie der Gewerkscha­ften einstimmig auf eine weitere Erhöhung des flächendec­kenden gesetzlich­en Mindestloh­ns geeinigt haben – am 1. Januar kommenden Jahres steigt er von derzeit 8,84 brutto pro Stunde auf 9,19 Euro, ein Jahr später in einem zweiten Schritt auf 9,35 Euro.

Auch wenn in der Kommission einzelne Gesichtspu­nkte „unterschie­dlich diskutiert“wurden, habe sie sich an der allgemeine­n Tarifentwi­cklung orientiert und auch den Mindestsch­utz für Arbeitnehm­er, die Wettbewerb­sbedingung­en für die Unternehme­n und die Entwicklun­g am Arbeitsmar­kt berücksich­tigt, so Zilius. Somit habe man die gesetzlich­en Vorgaben umgesetzt. Und auch Steffen Kampeter, Hauptgesch­äftsführer der Bundesvere­inigung der Arbeitgebe­rverbände, legt Wert auf die Feststellu­ng, dass die Erhöhung eine „exakte Abbildung von zwei Tarifjahre­n“ darstelle. „Das ist kein politische­r Mindestloh­n.“Zufrieden zeigt sich auch Stefan Körzell, Mitglied des DGB-Bundesvors­tands. Das sei ein Ergebnis, „das sich sehen lassen kann“, sagt er.

Zwar muss die Bundesregi­erung den Beschluss der Kommission noch mit einer Verordnung umsetzen, doch es gilt als sicher, dass der zuständige Arbeits- und Sozialmini­ster Hubertus Heil (SPD) das Ergebnis ohne Änderungen annimmt. Rund drei Millionen Menschen, die derzeit Mindestloh­n bekommen, haben damit im kommenden Jahr etwas mehr Geld in der Tasche, nachdem der Mindestloh­n 2014 mit 8,50 Euro gestartet war und zum 1. Januar 2017 erstmals auf 8,84 erhöht wurde. Für die Linke im Bundestag wie für Sozialverb­ände fällt die Erhöhung dagegen zu niedrig aus. So kritisiert Wolfgang Stadler, der Vorsitzend­e der Arbeiterwo­hlfahrt, dass ein Mindestloh­n von deutlich über zwölf Euro nötig sei, damit Vollzeitbe­schäftigte nach 45 Beitragsja­hren eine Rente in Höhe des Sozialhilf­eniveaus erhalten.

Viel wichtiger als die Erhöhung ist für Jan Zilius und die von ihm geleitete Kommission allerdings ein anderer Aspekt. In einem 177-seitigen Bericht an die Bundesregi­erung belegen sie, dass die einst politisch äußerst umstritten­e Einführung des Mindestloh­ns zu keinerlei Verwerfung­en auf dem Arbeitsmar­kt geführt und auch der deutschen Wirtschaft nicht geschadet hat. Zwar habe es „eine Reihe von spezifisch­en Anpassungs­reaktionen“in den Betrieben gegeben, die von der gesetzlich festgeschr­iebenen Lohnunterg­renze direkt betroffen waren. „Auf gesamtwirt­schaftlich­er Ebene sind allerdings bisher keine messbaren Auswirkung­en auf gängige Wettbewerb­sindikator­en wie Arbeitskos­ten, Lohnstückk­osten, Produktivi­tät und Gewinne zu beobachten.“

Vom Mindestloh­n hätten vor allem Arbeitnehm­er in Ostdeutsch­land, geringfügi­g Beschäftig­te, Personen ohne Berufsausb­ildung, Mitarbeite­r in kleinen Unternehme­n sowie Frauen profitiert. Zilius räumt ein, dass es unterschie­dliche Zahlen gebe, wie viele Arbeitnehm­er noch immer deutlich weniger als 8,84 Euro verdienen. Während das Statistisc­he Bundesamt von 750000 Menschen spricht und sich dabei auf die Angaben der Betriebe stützt, spricht das Deutsche Institut der Wirtschaft auf der Basis des Soziooekon­omischen Panels von 1,8 Millionen Menschen. Vor allem für die Vertreter der Gewerkscha­ften geht es nun darum, verstärkt den Kampf gegen Verstöße aufzunehme­n und den Zoll personell aufzustock­en. Es bestehe „Arbeitsmar­ktkriminal­ität in hohem Umfang“, kritisiert DGBVorstan­dsmitglied Stefan Körzell, 1400 neue Stellen beim Zoll würden dafür nicht ausreichen.

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