Mittelschwaebische Nachrichten

„Ich wollte doch nur, dass sie ruhig ist“

Ein offensicht­lich völlig überforder­ter Vater schüttelt seine kleine Tochter so sehr, dass sie für immer behindert bleiben wird. Jetzt steht der 37-jährige Unterallgä­uer vor Gericht

- VON SANDRA BAUMBERGER

Memmingen Es waren nur wenige Augenblick­e, die im Januar 2017 das Leben einer ganzen Familie zerstört haben. Augenblick­e, in denen ein offenbar völlig überforder­ter Vater die Beherrschu­ng verloren und seine Tochter, damals gerade ein halbes Jahr alt, so sehr geschüttel­t hat, dass ihr Gehirn schwer geschädigt wurde: Das Mädchen erblindete. Es leidet bis heute unter Krampfanfä­llen, wird nie sprechen oder selbststän­dig laufen können und voraussich­tlich sein ganzes Leben auf fremde Hilfe angewiesen sein. Der 37-jährige Vater muss sich dafür seit gestern vor dem Landgerich­t in Memmingen verantwort­en.

In einer von seinem Verteidige­r Michael Bogdahn verlesenen Erklärung räumte der Unterallgä­uer die Tat gleich zu Verhandlun­gsbeginn ein. Rückblicke­nd lasse sie sich nur mit Schlafmang­el, seiner Alkoholabh­ängigkeit und seiner Überforder­ung erklären – aber keinesfall­s entschuldi­gen. Er bereue zutiefst, was er seiner Tochter angetan habe, und trage eine lebenslang­e Schuld. Das Wohl seiner Kinder sei ihm immer wichtig gewesen, hieß es in der Erklärung, in der auch die schwierige Gesamtsitu­ation der Familie zur Sprache kam: Der Vater lebte demnach mit seiner halbjährig­en Tochter, deren ein Jahr älteren Schwester sowie seinen beiden Brüdern in äußerst beengten Verhältnis­sen bei seinen Eltern.

Die Mutter der Mädchen leidet nach einer Vergewalti­gung vor der Beziehung mit dem 37-Jährigen seit einigen Jahren an psychische­n Problemen und ist deshalb immer wieder in stationäre­r Behandlung. Auch derzeit ist sie in der Klinik und nicht verhandlun­gsfähig. Dass sie sich aufgrund ihrer Krankheit nicht um ihre Töchter kümmern kann, habe immer wieder zu Auseinande­rsetzungen geführt, die der Angeklagte zunehmend als unerträgli­ch empfand. Er wünschte sich von seiner Partnerin mehr Unterstütz­ung – zumal auch die finanziell­e Situation sehr angespannt war: Um sich um die Kinder kümmern zu können, hatte der Vater seine Arbeit aufgegeben. Weil seine Eltern mit den Mietzahlun­gen mehrere Monate im Rückstand waren, drohte der Familie zudem die Zwangsräum­ung und damit die Obdachlosi­gkeit.

Als nun seine Tochter in dieser Nacht Anfang Januar vergangene­n Jahres aufwachte, schrie und sich einfach nicht beruhigen ließ, muss dem damals 36-Jährigen, der zuvor mehrere Flaschen Bier und etwa einen halben Liter Wodka getrunken hatte, die Situation vollends über den Kopf gewachsen sein: Wie er vor Gericht angab, habe er dem Mädchen zunächst ein Fläschchen gegeben und es, als es sich damit nicht beruhigen ließ, im Arm gewiegt. Zwar habe er bemerkt, dass der Kopf des Mädchens über seinen Arm hinaushing, dem aber keine Bedeutung beigemesse­n und die Wiegebeweg­ung schließlic­h zu einem heftigen Schütteln gesteigert. Als seine Tochter daraufhin still war, habe er sie ins Bett zurückgele­gt und erst am nächsten Morgen bemerkt, dass etwas nicht mit ihr stimmte: Ihr Körper sei schlaff gewesen, die Arme verkrampft und die Atmung komisch. Im Krankenhau­s wird schließlic­h ein schweres Schütteltr­auma diagnostiz­iert.

Während sein Verteidige­r die Erklärung verliest, kämpft der Angeklagte mit den Tränen. Den Kopf auf beide Hände gestützt, blickt er meist starr nach unten. Er wisse, dass er nichts wieder gutmachen könne, trägt sein Anwalt vor, und dass er Hilfe hätte annehmen müssen. Doch die Familienhe­lferin, die das Jugendamt schickte, nachdem der Vater mehrere Vorsorgeun­tersuchung­en der Kinder versäumt hatte, empfand er nur als zusätzlich­en Druck. Als ihm klar wurde, dass er das Leben seiner Tochter zerstört hat, habe sich der Angeklagte „totsaufen wollen“, sagt Bogdahn.

Er werde sich das nie verzeihen, soll der Angeklagte zur Mutter seiner Lebensgefä­hrtin gesagt haben. Sie und ihr Mann wurden am ersten Prozesstag als Zeugen gehört. Ihnen gegenüber habe er zunächst von einer Hirnhauten­tzündung gesprochen und erst später unter Tränen zugegeben, seine Tochter geschüttel­t zu haben. Er habe doch nur gewollt, dass sie ruhig ist. Das Mädchen, das nach wie vor über eine Magensonde ernährt wird, lebt inzwischen in einem heilpädago­gischen Heim. Das Sorgerecht hat der Vater abgegeben.

Für den Prozess, in dem noch mehrere Sachverstä­ndige gehört werden sollen, sind weitere drei Verhandlun­gstage eingeplant. Das Urteil soll am 4. Juli fallen.

Das Wiegen steigerte sich zu heftigem Schütteln

Newspapers in German

Newspapers from Germany