Mittelschwaebische Nachrichten
Meine Vorfahren, die Henker
Ahnenforschung ist beliebt wie nie. Das ZDF widmet dem Thema nun eine eigene Show. Darin spielt auch die Familie von Sabine Scheller eine Rolle. Sie hat schon vor Jahrzehnten angefangen, nach ihren Wurzeln zu suchen. Und ist auf eine aufregende Geschichte
Oettingen Treffpunkt: Richtschwert. Sabine Scheller hätte die behutsame Variante wählen und das wichtigste Beweismittel für das blutige Kapitel in ihrer Familiengeschichte ans Ende der kleinen Führung setzen können. Aber warum zimperlich sein? Wenn das Ding schon im Heimatmuseum hängt. Also ein paar Treppen hoch, ein paar Schritte noch und – tadaaa: das Scheller-Schwert. Silbern glänzend, effektvoll hinter Glas in Szene gesetzt, gleich neben dem Folterwerkzeug, den Beinschrauben. Ahnenforschung, das ist Stammbaum, Kirchenbuch und Wappen. Kann aber auch Richtschwert sein. Wenn die Vorfahren Henker waren.
Sabine Scheller, 57, Kinderkrankenschwester, kurze Haare, rahmenlose Brille, gemustertes Sommerkleid, ist an diesem Nachmittag eigens von ihrem Wohnort Kempten nach Oettingen ins Ries gefahren, um ihre Geschichte zu erzählen. 180 Kilometer. Sie macht darum nicht viel Aufhebens. Scheller erkundet seit mehr als drei Jahrzehnten die Vergangenheit ihrer Familie, da sind weiß Gott weit mehr als 180 Kilometer draufgegangen.
Das kennen alle, die die Ahnenforschung für sich entdeckt haben. Und es werden immer mehr. Das Hobby erfährt eine nie da gewesene Blüte. Ist es die neue Lust auf Familie? Wiederentdeckte Heimatverbundenheit? Eine Antwort auf das Monstrum Globalisierung?
Vielleicht von allem ein wenig. Jedenfalls will auch das Fernsehen davon profitieren. Das ZDF dreht derzeit mehrere Folgen für die neue Sonntags-Show „Du ahnst es nicht!“, die im Herbst gezeigt werden soll. Eine Sendung voll mit Ahnengeschichten. Moderator – das konnte nun wirklich niemand ahnen – ist Ex-Modern-Talking-Sänger Thomas Anders. Die Familie Scheller aus Oettingen wird auch eine Rolle spielen.
Womöglich auch das Richtschwert. Wenn das Ding – mindestens 250 Jahre alt, Genaues weiß man nicht – schon mal im Heimatmuseum hängt. Es war lange in Familienbesitz. Bis ihr Großvater es in einer Silvesternacht „in nicht mehr ganz nüchternem Zustand“dem Museum vermachte, erzählt Sabine Scheller. Wie viele Menschen wohl nach Gebrauch – blöder Scherz – einen Kopf kürzer waren? Achselzu- cken. „Wenn ich das wüsste“, antwortet sie. Dokumentiert ist das nicht. Man weiß nur, was die Delinquenten alles ausgefressen hatten. Natürlich war Mord dabei, aber auch Ehebruch, Diebstahl, ja sogar auf Sex mit Tieren stand die Höchststrafe.
Ahnenforschung hat was von einer Wundertüte. Da fängt man halt an, im Fall von Sabine Scheller mit Anfang 20, beflügelt von Erzählungen einer Großtante einige Jahre zuvor. Stöbert Stunden, Tage, Wochen in Archiven. Macht Fortschritte mal in Formel-1-Geschwindigkeit, mal im Zeitlupentempo. Endlose Ketten von Namen, Berufen und Geburtsdaten. Stößt auf dies und das, auf ein paar Lehrer, eine bäuerliche Linie, auf Pfarrer und einen Missionar in Indien. Liest dann irgendwann das Wort: Scharfrichter-Witwe. Und es beginnt, richtig spannend zu werden.
Scharfrichter – so blutig und gruselig das alles klingt, was man mit dem Begriff verbindet, man kann sich seiner Faszination dann doch nicht entziehen. Scheller sagt: „So grausam die Zeit auch war, mich gruselt es nicht, wenn ich Geschichten darüber lese.“Zumal zum Beruf Scharfrichter mehr gehörte, als man gemeinhin annimmt. „Kommen Sie mit“, sagt sie, „fahren wir dorthin, wo alles anfing.“
Mit den Scharfrichtern war das so, beginnt sie zu erzählen, als sie ihren Wagen durch die engen Gassen Oettingens steuert. Es war ein Lehrberuf mit Meisterprüfung. Da er als „unehrlich“galt und die Söhne von Scharfrichtern kaum Chancen hatten, einen anderen Job zu ergreifen, lernte der Lehrling das Handwerk meist beim Vater und danach bei einem anderen Verwandten. So entstanden ganze Dynastien.
Erstmals erwähnt wurde „der mit der Schärfe des Schwertes Richtende“im Jahr 1276 – im Stadtbuch von Augsburg. Später nannte man ihn auch Henker oder Nachrichter. Einer, zu dessen Aufgaben „peinliche Befragungen“(auf gut Deutsch Folter), Bestrafungen und eben Hinrichtungen gehörten, wie man gerade im Heimatmuseum auf einer Erklärtafel lesen konnte.
Nach fünf Minuten Fahrt kommt Schellers Mercedes im Innenhof eines gepflegten, in Grün und Weiß gestrichenen Anwesens zum Stehen. Das ist also der Scheller-Hof. Hier zog 1765 Johann Michael Scheller ein, Sohn eines Scharfrichters aus Ingolstadt, nachdem er die Zusage für die freie Stelle als Oettinger Scharfrichter erhalten hatte. Hier wohnte auch Sohn Alois, eines von 15 Kindern. Er wurde später Nachfolger von Johann Michael – der letzte seines Fachs oben im Ries.
Bis heute ist der Hof in Familienbesitz. Alois Friedel, 67, Getränkehändler, kariertes Hemd, Jeans und Schnauzbart, ist Sohn der SchellerNachfahrin Anneliese. Ein Mann mit Humor, wie er gleich unter Beweis stellt. „Was ich heute noch Knochen finde auf dem Hof“, fängt er an. „Egal, wo man buddelt.“
Knochen? Kopfkino. Das werden doch nicht… „Tierknochen“, schickt er mit einem Schmunzeln hinterher. „Das liegt daran“, springt ihm Cousine Sabine zur Seite, „dass der Scharfrichter nicht nur Todesurteile gegen Menschen vollstreckt hat.“Die Scheller-Scharfrichter waren zugleich auch Wasenmeister, das heißt, für die Beseitigung von Tierkörpern zuständig. Sie zogen beispielsweise Häute ab, die an Gerbereien gingen. Weil sie sich eh schon so gut mit Tieren auskannten, versorgten sie auch die Hunde und Pferde des Fürsten. Und dann setzt Sabine Scheller noch eins obendrauf.
Scharfrichter waren diejenigen, die Straftäter folterten – es musste ja ein Geständnis „erwirkt“werden, nur dann war eine Verurteilung möglich. Folter aber nur bis zu einer gewissen Schwelle. Dann pflegten sie die Wunden der Delinquenten – um diese schließlich wieder zu foltern. So erwarben sie erstaunliche medizinische Kenntnisse. „Vielleicht“, sagt Scheller, „ist es ein Stück weit auch das, was mich an der Scharfrichter-Geschichte fasziniert.“Sie ist ja selbst in der Medizin zu Hause, als Krankenschwester im Klinikum Kempten.
Das ist doch das Spannende, sagt Manfred Wegele, so etwas wie Mr. Ahnenforschung in Bayern. „Dass man immer wieder auf neue Zusammenhänge stößt.“Der 68-Jährige aus Tapfheim bei Donauwörth leitet den Bayerischen Landesverein für Familienkunde und ist auch dessen Schwaben-Chef. Seine eigene Familiengeschichte ist voller überraschender Verbindungen. Sein Urgroßvater war Onkel des Mädchenmörders Jakob Wegele, der 1898 in Augsburg enthauptet wurde. Da ist die Story mit Rudolf Diesel, dem Erfinder des Dieselmotors. Die Urgroßeltern seines Urgroßvaters waren auch Wegeles Vorfahren. Und dann musste Mr. Ahnenforschung nur lange genug suchen, um eine gemeinsame Linie mit Sabine Scheller zu finden, irgendwann vor ein paar hundert Jahren.
„Man wird nie fertig“, sagt Wegele. Trotzdem fangen so viele Menschen mit dem Hobby an. Und schließen sich zusammen. Jahr für Jahr wächst die Bezirksgruppe um etwa 25 Leute. Derzeit sind rund 450 in der Region organisiert. Solche Familienforscher tüfteln nicht im stillen Kämmerlein. Sie vernetzen sich, der digitalen Welt sei Dank, via E-Mail oder Facebook und tauschen sich bei regelmäßigen Treffen aus, die mancherorts themengerecht „Stammbaumtisch“heißen.
Sabine Scheller fand irgendwann heraus, dass die Exekution mit dem Schwert unten auf dem Richtplatz an der Wörnitz nicht die einzige Methode war, derer sich die Scharfrichter bedienten. Also noch einmal ins Auto, auf einer schmalen Straße vorbei an der Oettinger Brauerei, durch eine wunderschöne Allee hinauf auf eine kleine Anhöhe. „Hier“, sagt sie und stoppt auf einem Parkplatz. „Wo jetzt das Feldkreuz ist, stand früher der Galgen.“
Der Galgen also auch noch. Von allen Seiten einsehbar. Je nach De- likt kam der Verurteilte hierher oder runter auf den Richtplatz. Ob das Holzkreuz an dieser Stelle Zufall ist? „Das habe ich mich auch schon gefragt“, antwortet Scheller.
Anfang des 19. Jahrhunderts war die Oettinger Scharfrichter-Geschichte dann vorbei. Die Folter wurde abgeschafft, 1843 gab es auf heutigem bayerischen Boden nur noch wenige diensthabende Henker. Darunter zwei mit Namen Scheller. Auch die Ausbildung änderte sich. Scharfrichter war kein Lehrberuf mehr, man wurde nur noch angelernt. Dadurch sank – so zynisch das klingt – die Qualität der Arbeit. Sabine Scheller fand heraus, dass dem Amberger Henker Lorenz Scheller 1852 eine Hinrichtung derart misslang, dass er von der Menge beinahe gelyncht worden wäre. Die Obrigkeit reagierte schließlich mit der Einführung der Guillotine.
Hier am Feldkreuz endet also alles, wenn man so will. Letztes Kapitel, Geschichtsbuch zu? „Oh nein“, sagt Sabine Scheller. „Es gibt noch so viele offene Baustellen.“Die Ahnenforschung ist ihr Ausgleich zur Arbeit, sie lebt allein, steckt die ganze Freizeit ins Hobby. Ein Projekt nach dem anderen: Die Schäfer mütterlicherseits, die aus Frankreich kommen sollen. Sie dokumentiert Friedhöfe in der Region, ein Mordsaufwand. Das Ortsfamilienbuch von Belzheim unweit von Oettingen, das sie bald fertigstellen will. Wer weiß, vielleicht reist sie mal wieder zum „Scharfrichter-Nachfahrentreffen“. Das gibt es wirklich.
Und was ist, wenn in der ZDFSendung noch was ausgegraben wird, von dem sie bislang nichts wusste? Tobias, Sohn von Alois Friedel, wird sich dort von Experten aufklären lassen. Wenn es etwas aufzuklären gibt. Die Redaktion hat sich schon Schellers Forschungsergebnisse schicken lassen.
Wenn sie mal in Rente geht, erzählt sie noch, will sie wieder in Oettingen wohnen. Die offenen Baustellen … „Ach, übrigens“, sagt sie, als hätte sie etwas vergessen. „Wo der Galgen stand, ein paar Meter dahinter …“Anderthalb Stunden hat sie in einer Tour von Hinrichtungen und Leichen und Richtschwertern erzählt, immer wieder verschmitzt gelächelt, als wollte sie im Gesicht ihres Gegenübers erkunden, welche Wirkung die gruseligen Geschichten entfalten. Nun zum Abschluss sagt sie doch glatt: „Ein paar Meter dahinter ist heute ein Grillplatz.“
Ahnenforscher haben offenbar einen guten Humor.
Das alles hat was von einer Wundertüte
Wo heute ein Feldkreuz ist, stand früher der Galgen