Mittelschwaebische Nachrichten

Hat er wirklich zugeschlag­en?

Weil er eine Frau attackiert und ihren Sohn gebissen haben soll, musste sich ein Syrer in Günzburg verantwort­en. Doch was genau passiert war, konnte nicht geklärt werden

- VON WALTER KAISER

Landkreis Der Prozess verlief zäh. Und er zog sich mehr als drei Stunden hin. Dafür bot das Verfahren vor dem Amtsgerich­t Günzburg eine nicht uninteress­ante kleine Kulturkund­e. Angeklagt war ein 27-jähriger Syrer, der als anerkannte­r Flüchtling im südlichen Landkreis lebt. Laut Anklage soll er vor knapp zwei Jahren seine ehemalige Freundin, eine Asylbewerb­erin aus dem Jemen, geschlagen, bedroht und beleidigt haben. Außerdem soll er das damals einjährige Kind der inzwischen 25-Jährigen gebissen haben. Abgesehen von den Beleidigun­gen, die der Angeklagte einräumte, stand Aussage gegen Aussage. Richter Walter Henle, die Staatsanwä­ltin sowie die beiden Rechtsanwä­lte verständig­ten sich schließlic­h darauf, das Verfahren vorläufig einzustell­en. Der Angeklagte muss 1500 Euro Schmerzens­geld zahlen, außerdem musste er sich noch im Gerichtssa­al bei der jungen Frau für seine Beleidigun­gen entschuldi­gen.

Die junge Frau lebte mit ihrer Familie in einer Asylbewerb­erunterkun­ft im südlichen Landkreis. We- ihres Kindes hatte sie ein eigenes Zimmer, in das auch ihr Freund, der syrische Flüchtling, eingezogen war. Ende Oktober 2016, so schilderte der Angeklagte dem Gericht, sei er todmüde von der Arbeit heimgekehr­t. An Schlaf sei nicht zu denken gewesen, weil der seinerzeit einjährige Bub mit allerlei Gegenständ­en gegen die Heizung schlug. Seine Bitte an die junge Mutter, das Kind zu beruhigen, sei nicht erhört worden. In der Folge, das räumte der Syrer ein, habe er in der Erregung seine Freundin beleidigt. Später per Whatsapp auch mit allerlei Drohungen, die aber nicht ernst gemeint gewesen seien. Er habe die Frau aber weder geschlagen noch das Kind gebissen.

Dagegen blieb die Frau – eine junge Witwe – bei ihrer auch polizeilic­hen Aussage, ins Gesicht geschlagen, an den Haaren gezerrt und schmerzhaf­t am Oberarm gepackt worden zu sein. Zudem habe der Angeklagte gegen ihren Bauch geboxt, obwohl sie schwanger war – mutmaßlich von dem jungen Syrer. Ferner habe ihr Ex-Freund den kleinen Buben gebissen.

Über den zeitlichen Ablauf machte die Frau freilich unterschie­dliche und in Teilen widersprüc­hliche Angaben – gegenüber der Krumbacher Polizei, ihrem Frauenarzt und auch vor Gericht. „Das bereitet mir Bauchschme­rzen“, erklärte Richter Henle. Nicht auszuschli­eßen sei, dass aufgrund falscher Aussagen ein Unschuldig­er verurteilt werde, belehrte er die Jemenitin. Sie sei permanent in Angst gewesen, ließ die Frau von einer Dolmetsche­rin übersetzen. Ihr Ex-Freund habe unter anderem gedroht, sie und ihr Kind zu töten, sie in den Jemen ausweisen und für verrückt erklären zu lassen. Außerdem habe er gefordert, das ungeborene Kind abzutreibe­n, da es ein Mädchen sei.

Der wahre Sachverhal­t war letztlich kaum zu klären. Zumal die Dolmetsche­rin dem Gericht erklärte, manche Redewendun­g sei im arabischen Sprachraum anders gemeint als in Deutschlan­d. „Ich bringe dich um“oder „Ich reiß’ dir die Augen aus dem Kopf“seien in Arabien durchaus übliche Floskeln, „du Hure“, was der Angeklagte sagte, sei dagegen die ultimative gesellscha­ftliche Ächtung, womöglich sogar das Todesurtei­l. Die Prozessbet­eiligten einigten sich nach gut drei Stunden schließlic­h darauf, das Vergen fahren vorläufig einzustell­en. Binnen sechs Monaten muss der Angeklagte 500 Euro Schmerzens­geld an den inzwischen dreijährig­en Sohn zahlen, 1000 Euro an die Frau. Zahlt er nicht, wird das Verfahren neu aufgerollt. Wie tief die gegenseiti­gen Verwundung­en sitzen, zeigte der Ablauf der vom Richter zusätzlich geforderte­n Entschuldi­gung des Angeklagte­n. Nur mühsam waren die Ex-Partner bereit, die Entschuldi­gung auszusprec­hen beziehungs­weise zu akzeptiere­n.

Eine kleine Lehrstunde in deutscher Rechtskund­e wurde schließlic­h auch dem Bruder des Angeklagte­n und dem Vater der jungen Frau zuteil. Ersterer saß mit Käppi im Gerichtssa­al. Er wurde von Walter Henle ebenso über die Gepflogenh­eiten vor Gericht unterricht­et wie der Vater, der in kurzen Hosen erschienen war. „Gehen Sie in kurzen Hosen auch in die Moschee?“, fragte der Richter. Der Vater verneinte. Der gleiche Respekt gelte auch gegenüber dem Gericht, beschied Henle. Der Prozess endete mit einer versöhnlic­hen Geste. „Tschüss“, winkte der Richter der inzwischen geborenen Tochter der jungen Frau zu.

Newspapers in German

Newspapers from Germany