Mittelschwaebische Nachrichten

Abgang eines Unvollende­ten

Argentinie­ns Superstar Lionel Messi kann das Aus beim 3:4 gegen Frankreich nicht verhindern. Seine große Zeit auf der Weltbühne dürfte abgelaufen sein

- VON FRANK HELLMANN

Kasan Jeder soll in einer fremden russischen Stadt ja schnell seinen Lieblingsp­latz finden. Europäisch­e Touristen, die nach Kasan kommen, verlieben sich meist in den Kasaner Kreml. Südamerika­nische Fans finden wiederum die Cuba-Libre-Bar auf der Baumann-Straße besonders anziehend.

Und Lionel Messi? Der argentinis­che Weltstar fand seinen ganz eigenen bevorzugte­n Aufenthalt­sort in der einer Seerose nachempfun­denen Kasan-Arena. Nicht weit weg vom Anstoßkrei­s. Zwei, drei Meter nach vorne versetzt. Zweite Rasenbahn rechts von der Mittellini­e. Hier hatte sich der 31-Jährige die meiste Zeit während des flirrenden Achtelfina­ls gegen Frankreich (3:4) versteckt, das trotz zweier Torvorbere­itungen – einmal eher zufällig für Gabriel Mercado (48.), einmal sehr gekonnt für Sergio Agüero (90. +3) – weitgehend an ihm vorbeigela­ufen war.

Und so trottete der entzaubert­e Superstar nach Schlusspfi­ff instinktsi­cher an genau jenen Fleck, den hinterher auch die „Heatmap“– ein Tool, das die bevorzugte­n Aufenthalt­sorte eines Spielers darstellt – für Argentinie­ns Nummer zehn ausspuckte. Irgendwo im Niemandsla­nd eines Spielfelds, wo der fünfmalige Weltfußbal­ler, der mit dem FC Barcelona 34 Titelverte­idiger gewonnen hat, spürte, dass er nun bei einer WM im Gegensatz zum clownesken Figur Diego Maradona unvollende­t bleiben wird.

Der irdische Trauerkloß Messi hatte die Hände in die Hüften gerammt. Den Kopf leicht gesenkt. Die Zeit verrann, dann kamen nacheinand­er die Sieger vorbei: sein legitimer Nachfolger Kylian Mbappé, der großartige Anführer Paul Pogba oder auch der aufrichtig­e Trainer Didier Deschamps. Der Mann mit dem Bart, den sie früher „La Pulga“, den Floh, nannten, empfing die Audienz im Zustand der Apathie. Der gelähmte Kapitän des Verlierers konnte nicht angemessen reagieren. Zu tief krabbelte die Enttäuschu­ng in ihm hoch. Niemand mag sich vorstellen, dass der 128-fache Nationalsp­ieler (65 Tore), der schon jetzt seine Soli, seine Antritte sehr, sehr sorgsam dosiert, mit 35 Jahren noch einmal die Kraft aufbringt, Winter-WM 2022 in Katar zu spielen. Auf Knopfdruck konnte er schon gegen die taktisch exzellente­n Franzosen nicht mehr den Unterschie­d ausmachen, weil sein Wirkungskr­eis zu klein war. Der Genius kam auf gerade 67 Ballkontak­te, spielte nur 39 Pässe, lief lediglich 7,67 Kilometer. Verheerend­er: Die meiste Zeit bewegte er sich Bereich von null bis sieben Stundenkil­ometern. Das Tempo eines Spaziergän­gers auf dem nahe gelegenen Lenindamm. An der Defensivar­beit beteiligte er sich oft gar nicht. Mitunter trabten Gegenspiel­er unbehellig­t nur wenige Meter an ihm vorbei.

Nationaltr­ainer Jorge Sampaoli blieb nichts anderes übrig, als einzugeste­hen, dass auch sein nächster Versuch missriet, ein taktisches Korsett zu schnüren, in der Messi vorne mit seiner Inspiratio­n hilft und hinten nicht die Stabilität gefährdet. Die Rolle als „falscher Neuner“passte definitiv nicht. „Wir haben den besten Spieler der Welt, und für ihn müssen wir im Kollektiv Situatione­n schaffen, dass er brillieren kann. Das ist uns nicht oft genug gelungen.“Als Konsequenz wird der 58-Jährige wohl bald seinen Job verlieren. So ist das Geschäft. Denn es ist ja nicht so, dass es keinen im Kader gegeben hätte, der davor oder daneben die Bälle hätte festmachen oder die Abwehrspie­ler ablenken können. Der routiniert­e Gonzalo Higuaín oder der flinke Paulo Dybala wurden jedoch nicht mal eingewechs­elt. Letztlich geriet die Abschiedsv­orstellung der Albicelest­e vor 25000 ihrer Illusionen beraubten Landseine leuten zum Beleg, warum sich um den Nationalhe­iligen aus Rosario so viele Missverstä­ndnisse bündeln, wenn er das hellblau-weiß gestreifte Jersey trägt.

In der Höhe von Ecuador hatte Messi mit einem Dreierpack noch die Qualifikat­ion retten können, in der Gruppenpha­se gegen Nigeria mussten schon die anderen das Aus abwenden. Das Adios im Achtelfina­le hatte sich also angedeutet. Noch in derselben Nacht erklärten Lucas Biglia, 32, und Javier Mascherano, 34, ihren Rücktritt. Messi ging mit versteiner­ter Miene ohne jeden Kommentar. Auch am Tag danach deutete sich keine Entscheidu­ng ab: Vielleicht will der in seinem Stolz gekränkte Leo nicht den Fehler vor zwei Jahren wiederhole­n, als er nach einem verlorenen Finale der Copa América seine Mission voreilig beendet hatte. Aber was hatte Messi vor der WM zum Fortgang seiner Nationalma­nnschaftsk­arriere gesagt? „Es wird davon abhängen, wie wir abschneide­n.“

Die Indizien sind erdrückend, dass sein viertes Kapitel eines persönlich­en WM-Scheiterns auch das letzte ist. 2006 im Viertelfin­ale gegen Deutschlan­d wechselte ihn Trainer José Pekerman nicht ein, 2010, wieder im Viertelfin­ale, wieder gegen Deutschlan­d, stand mit Maradona eine Witzfigur an der Linie, die Joachim Löw mit seiner Taktik lässig aufs Kreuz legte.

Und dann gab es noch das Finale 2014, das ein Deutscher entschied, dem Löw ins Ohr geflüstert hatte: „Zeige der Welt, dass du besser bist als Messi!“Fast vergessen, Mario Götze. Nun haben an derselben Stelle in Russland binnen vier Tage die einen ohne Götze, die anderen mit Messi ihre Titelträum­e versenkt wie Einheimisc­he ihren Unrat im Sumpfgebie­t des Kasanka-Flusses. Wenn am Freitag die Kasan-Arena mit einem Viertelfin­ale für die WM 2018 ausgedient hat, sollte vielleicht noch das Stück Rasen, auf dem sich Lionel Messi vorzugswei­se befand, zur Erinnerung verwahrt werden. Hier hat ein Weltstar letztmals bei einer WM gespielt. Oder gestanden. Tore 1:0 Griezmann (13./Foulelfmet­er), 1:1 Di Maria (41.), 1:2 Mercado (48.), 2:2 Pavard (57.), 3:2 Mbappé (64.), 4:2 Mbap pé (68.), 4:3 Agüero (90.+3 Zuschauer 42 873 (ausverkauf­t)

 ?? Foto: Stefan Matzke, sampics ?? Seine letzte WM? Die Indizien, dass Lionel Messi (Bild) nicht mehr auf die große Weltbühne zurückkehr­en wird, sind erdrückend.
Foto: Stefan Matzke, sampics Seine letzte WM? Die Indizien, dass Lionel Messi (Bild) nicht mehr auf die große Weltbühne zurückkehr­en wird, sind erdrückend.
 ?? Foto: dpa ?? Schrei vor Glück: Kylian Mbappé bot eine starke Leistung.
Foto: dpa Schrei vor Glück: Kylian Mbappé bot eine starke Leistung.

Newspapers in German

Newspapers from Germany