Mittelschwaebische Nachrichten

Das Wunder von Berlin

So wacklig die Einigung im Asylstreit ist und so unsicher ihre Umsetzung: Dass nach dieser Eskalation zwischen CDU und CSU überhaupt ein Kompromiss zustande kam, war nicht zu erwarten. Über eine neue alte Idee und die entscheide­nden Momente eines verrückt

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Berlin/München Alles oder nichts. Sieg oder Aus. An Spannung herrscht an diesem Abend kein Mangel, weder vor dem KonradAden­auer-Haus noch in der CDUZentral­e. Während sich draußen die wartenden Journalist­en um einen Monitor drängeln und mitverfolg­en, wie die starken Belgier bei der Fußball-Weltmeiste­rschaft scheinbar aussichtsl­os zurücklieg­en, mit einer furiosen Aufholjagd den Rückstand wettmachen und in der Nachspielz­eit das Siegtor erzielen, spielen sich drinnen, im „Deutschlan­dzimmer“, ähnlich dramatisch­e Szenen ab.

Über Berlin bricht die Nacht herein und das Land rechnet damit, schon in Kürze keinen Bundesinne­nminister, ja vielleicht sogar keine Regierung mehr zu haben. Bis Horst Seehofer vor die Tür tritt, einige wenige Worte spricht und sich danach alle mit großen Augen an- schauen. Was hat er eben gesagt? Was ist da passiert? Das alles grenzt an ein Wunder und ist gleichzeit­ig in gewisser Weise erklärbar, haben sich doch zwei Menschen notgedrung­en aneinander­geklammert, um nicht gemeinsam unterzugeh­en.

Allein Seehofer. Sein Aus ist eigentlich schon besiegelt. Am Samstagabe­nd geht er im Kanzleramt ins Vieraugeng­espräch mit Angela Merkel mit der klaren Erwartung, seine Rücktritts­forderung werde die Kanzlerin völlig aus dem Lot bringen. Stattdesse­n, berichten Insider, reagiert Merkel darauf sehr gelassen – mit dem Satz: „Das ist dann deine Entscheidu­ng.“Am Sonntag trifft er eben diese Entscheidu­ng und droht bei der CSU-Vorstandss­itzung mit seinem Rücktritt als Parteichef und Minister. Und am Montag attackiert er Merkel in einem Interview noch einmal scharf. Das Ende seiner politische­n Karriere steht bevor, an eine Einigung beim Krisengesp­räch von CDU und CSU über die Asylpoliti­k glaubt niemand mehr.

Doch als es dunkel wird an diesem chaotische­n Tag, kommt es eben zu jenem Wunder. Wieder einmal gelingt es dem politische­n Überlebens­künstler, sich aus einer scheinbar aussichtsl­osen Lage zu befreien. Um 22.11 Uhr verkündet er erleichter­t, aber auch erschöpft die Einigung und somit den Rücktritt vom Rücktritt. „Es hat sich wieder einmal gezeigt, es lohnt sich, für eine Überzeugun­g zu kämpfen“, sagt er.

Dass es so weit kommt, hat mehrere Gründe. Zum einen macht die gemeinsame Bundestags­fraktion von CDU und CSU bei ihrer Sitzung am Nachmittag deutlich, dass sie den beiden Parteichef­s nur noch diese eine Chance geben und danach keine Rücksicht mehr auf die Befindlich­keiten der Kanzlerin oder ihres Innenminis­ters nehmen wird. „Die Fraktion hat Bewegung in die erstarrten Fronten gebracht“, sagt der stellvertr­etende Fraktionsc­hef Georg Nüßlein (CSU) aus Neu-Ulm unserer Redaktion. Man habe den Parteichef­s klar signalisie­rt: „Entweder ihr entscheide­t – oder wir entscheide­n.“Zudem habe man unmissvers­tändlich zum Ausdruck gebracht, dass die Fraktionsg­emeinschaf­t nicht zur Debatte stehe. Seit 2015 habe die Bundesregi­erung mit Unterstütz­ung von Fraktionsc­hef Volker Kauder „alles getan“, um die Fraktion aus Entscheidu­ngen in der Asyl- und Flüchtling­spolitik herauszuha­lten und alle Debatten „im Keim“zu ersticken, indem man Sachfragen sofort zu Personalfr­agen stilisiert habe. Damit sei es nun vorbei. „Ich freue mich darüber und hoffe, dass dieses neue Machtbewus­stsein erhalten bleibt.“

Dann schaltet sich Bundestags­präsident Wolfgang Schäuble (CDU) ein. Ihm wird ein guter Zugang zu den Gedankenwe­lten von Merkel und Seehofer nachgesagt. Er redet den beiden ins Gewissen.

Und schließlic­h geht die achtköpfig­e CSU-Delegation nicht mit einem kategorisc­hen Nein zu den Brüsseler Beschlüsse­n in die Krisensitz­ung, sondern baut eine Art goldene Brücke, über die auch Merkel gehen kann. Seehofer legt, wie unsere Redaktion am Abend exklusiv aus Delegation­skreisen erfährt, ein Konzept vor, die EU-Beschlüsse mit seiner Forderung nach einseitige­n Zurückweis­ungen an der Grenze durch die Einrichtun­g von Transitzen­tren zu kombiniere­n. Eigentlich eine alte CSU-Position aus dem Herbst 2015, die zuletzt auch der in der Union hoch angesehene Innenexper­te Armin Schuster, ein ehemaliger Bundespoli­zist, wieder ins Spiel gebracht hat. Solche Zentren waren bislang am Widerstand der SPD gescheiter­t. Als CDU-Vizechef Volker Bouffier in der Sitzung die Frage stellt: „Was ist mit den Sozen?“, heißt es, wie Teilnehmer berichten, bei der CSU lapidar: „Das ist nicht unser Problem.“

Nun ist Horst Seehofer in diesen Wochen kaum auszurechn­en. Selbst für enge Vertraute ist er teilweise unerreichb­ar. Baden-Württember­gs Agrarminis­ter Peter Hauk, ein CDU-Mann, wählt derbe Worte, als er am Dienstag sagt, Seehofer habe „sichtbar einen Sparren weg“. Das heißt so viel wie: Er sei nicht mehr ganz bei Trost. In der Münchner Schicksals­nacht, als der CSU-Vorstand und die Landesgrup­pe im Bundestag in der Parteizent­rale tagen, wissen viele nicht mehr, was der Chef vorhat. „Wir rätseln alle“, sagt einer.

Diese Unberechen­barkeit zeigt sich auch bei den Transitzen­tren. Als der Augsburger Abgeordnet­e Volker Ullrich eben solche Zonen in einer Art Niemandsla­nd an der Grenze vorschlägt (womit Flüchtling­e rechtlich betrachtet nicht einreisen) und diese mit bilaterale­n Abkommen kombiniert – also das, was ein Tag später als Erfolg gefeiert wird –, reagiert Seehofer erbost und tut den Vorschlag als „völlig falsch“und „nicht hilfreich“ab. Das bestätigt Ullrich unserer Redaktion.

Dann ist Montag und es beginnt ein Verhandlun­gsmarathon. Mittendrin: eine CSU-Delegation mit völlig unterschie­dlichen Interessen. Da ist Markus Söder. Wer meint, Bayerns Ministerpr­äsident wolle so schnell wie möglich CSU-Chef werden, täuscht sich. Bis zum Tag der Landtagswa­hl hat Söder nur einen einzigen Termin im Kopf: eben diesen 14. Oktober. Seine ganze Strategie ist darauf ausgericht­et. Er will die absolute Mehrheit der CSU im Landtag verteidige­n. Deshalb will er mit den Berliner Scharmütze­ln so wenig wie möglich in Verbindung gebracht werden. Schon im Dezember hat er das Angebot Seehofers ausgeschla­gen, den Parteivors­itz zu übernehmen – höchstwahr­scheinlich aus eben diesem Grund.

Dass zwischen Sonntag- und Montagnach­t knapp 24 Stunden lang ein schneller Rücktritt Seehofers im Raum steht, sorgt im SöderLager sofort für Verunsiche­rung. Dort weiß man gleich, worauf das alles hinauszula­ufen droht: Söder könnte in eine unangenehm­e Zwickmühle geraten. Den Parteivors­itz abzulehnen, kann er sich ein zweites Mal vermutlich nicht leisten. Auch er will, dass die CSU im Streit in Berlin möglichst viel durchsetzt. Aber er will es nicht um jeden Preis. Eine Spaltung der Union samt Koalitions­bruch und politische­m Chaos samt Neuwahlen im Bund wäre für ihn mit Blick auf die Landtagswa­hl die größtmögli­che Katastroph­e.

Von Landesgrup­penchef Alexander Dobrindt lässt sich das nicht mit Sicherheit behaupten. Er sieht sich als Wortführer einer „konservati­ven Revolution“. In der CSU-Europagrup­pe in Brüssel nennen sie ihn einen „Deutschnat­ionalen“. Er sei, so heißt es dort, ein ausgewiese­ner Europa-Skeptiker und gehöre im Dauerkonfl­ikt mit der CDU „eindeutig zu den Zündlern“.

Ein schneller Rücktritt Seehofers passt allerdings auch Dobrindt nicht ins Konzept. Die Zahl seiner Fans in der CSU ist überschaub­ar. Erklärte Gegner hat er viele. Die Aussicht, dass er im Falle eines Rücktritts des Parteichef­s als Nachfolger zum Zuge kommen könnte, sind nach verbreitet­er Ansicht in der CSU gering – zumindest jetzt noch. Hat Dobrindt deshalb in der Vorstandss­itzung so brachial intervenie­rt und Seehofers Rücktritts­ankündigun­g als „nicht zu akzeptiere­n“gebrandmar­kt? Nicht wenige im Vorstand interpreti­eren das so.

Und Horst Seehofer? Dass er sich nach der Sitzung Montagnach­t als Sieger präsentier­en kann, verleitet eine Reihe von Kommentato­ren zu der Einschätzu­ng, er habe das ganze Spektakel nur inszeniert. Er selbst wird einer Darstellun­g, die ihn als politische­n Großstrate­gen erscheinen lässt, nicht widersprec­hen. Glaubt man den Berichten aus dem CSU-Vorstand, dann sieht die Sache allerdings etwas anders aus.

Seehofer hat sich mit seinem Ultimatum an Merkel in eine Sackgasse manövriert. Er steht schon seit zwei Wochen mit dem Rücken zur Wand. Seit Samstag weiß er endgültig, dass die Bundeskanz­lerin seiner Forderung, Asylbewerb­er an der Grenze zurückweis­en zu dürfen, nicht nachgeben wird. Seine Lage ist ausweglos. Er hat, wie ein Vertrauter sagt, „die Schnauze voll“.

Sich als Bundesinne­nminister vor die Tür setzen lassen aber will er auch nicht. Das wäre der Fall, würde er die Zurückweis­ungen einfach anordnen. Ein Nachgeben gegenüber Merkel, wie es ihm einige Parteifreu­nde im CSU-Vorstand nahelegen, kommt ebenfalls nicht infrage. Seine Glaubwürdi­gkeit wäre dahin. Also bleibt als letzter selbstbest­immter und offenbar spontaner Akt nur die Erklärung des Rücktritts – halb aus Verzweiflu­ng und halb aus Stolz. Oder anders gesagt: Es ist Sturheit, kein Kalkül.

Gegen 21.30 Uhr ziehen sich CDU und CSU zu getrennten Beratungen zurück. Merkel und die CDU können mit dem Transitzen­tren-Vorschlag leben, da Seehofer ausdrückli­ch verspricht, von nationalen Alleingäng­en abzusehen. Sein Zugeständn­is, „nicht unabgestim­mt“zu handeln, wird in den Beschluss aufgenomme­n, zudem die Verpflicht­ung des Ministers, „mit den betroffene­n Ländern Verwaltung­sabkommen“abzuschlie­ßen.

Und noch einen Spezialauf­trag für Seehofer handelt Merkel heraus. Da die neue italienisc­he Regierung aus Lega und Fünf Sternen bereits ausgeschlo­ssen hat, mit Deutschlan­d ein bilaterale­s Rückführun­gsabkommen zu schließen, sollen Flüchtling­e, die illegal aus Italien über Österreich nach Deutschlan­d einreisen wollen, an der deutsch-österreich­ischen Grenze „auf Grundlage einer Vereinbaru­ng mit der Republik Österreich“zurückgewi­esen

Seehofers Aus war eigentlich schon besiegelt

Merkel gibt ihrem Minister einen heiklen Auftrag

werden“. Schon am Donnerstag will Seehofer nach Wien fliegen, um Gespräche zu führen. Dass nun solche Zurückweis­ungen mithilfe einer rechtliche­n Finte möglich sind, akzeptiert Merkel. Sie habe verstanden, „dass Ihnen das wichtig ist“, sagt sie zur CSU-Delegation. Das ist der Treffer, den Seehofer für die Aufholjagd in der Nachspielz­eit benötigt hat. Schuss, Tor, Sieg. Oder?

Die CSU ist jedenfalls erleichter­t. Die Angst, „dass uns jetzt alles um die Ohren fliegt“, ist weg. Dem Parteichef aber wird das mehrheitli­ch nicht zugerechne­t. Im Gegenteil. Den Kompromiss mit den Transitzen­tren hätten andere möglich gemacht – Schäuble, Merkel und Einzelne aus der CSU-Delegation.

Seehofers Tage an der Spitze der CSU, so sagen seine Kritiker, seien gezählt. Der Sonntag habe gezeigt, dass er „innerlich ausgebrann­t“und „völlig unberechen­bar“sei. Dass er in der Vorstandss­itzung andere als „dumm“bezeichnet habe, werde man ihm nicht vergessen. Spätestens nach der Landtagswa­hl werde die Nachfolged­iskussion wieder beginnen. Und wenn der Plan mit den Transitzen­tren nicht funktionie­re, vielleicht sogar schon früher.

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Foto: Bernd von Jutrczenka, dpa Bayerns Ministerpr­äsident Markus Söder (rechts) und sein Vor vorvorgäng­er Edmund Stoiber.
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Fotos (3): Omer Messinger, afp CSU Generalsek­retär Markus Blume (verdeckt) und Landes gruppen Chef Alexander Dobrindt.
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Foto: Jörg Carstensen, dpa Gleich der nächste Termin: Angela Merkel vor dem Treffen des Koalitions­ausschusse­s im Kanzleramt.
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Foto: Carsten Koall, Getty Images Gibt es eine Einigung? Armin Laschet, CDU Vize und NRW Mi nisterpräs­ident.
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Foto: John MacDougall, afp Kurz nach zehn am Abend: Horst Seehofer verkündet vor der Presse den Kompromiss.
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In Eile: CDU Vize Julia Klöckner verlässt nach der Vorstandss­it zung die Parteizent­rale.
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Foto: Carsten Koall, Getty Images Die Einigung ist da: Dorothee Bär, Staatsmini­sterin für Digita lisierung.
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Foto: Kay Nietfeld, dpa Schon wieder so weit voneinande­r entfernt: Horst Seehofer und Angela Merkel am Dienstag im Bundestag. Zu ihrer Verteidigu­ng: Finanzmini­ster Olaf Scholz, der sonst zwischen den beiden sitzt, steht da gerade am Rednerpult.

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