Mittelschwaebische Nachrichten

Das wahre Gesicht

- WAS NICHT WAHR SEIN KANN

Neulich mal wieder im Stau gestanden. Wobei Experten von zäh fließendem Verkehr sprechen würden. Als würde man versuchen, einen Kaugummi durch einen Strohhalm zu saugen – so dynamisch war das Fahrverhal­ten. In dieser angespannt­en und seltsamerw­eise anstrengen­den Phase des Nichtstuns offenbaren Menschen ihr wahres Gesicht. Eingeklemm­t auf der mittleren Spur genügt ein einziger Rundumblic­k, um ein Abbild der menschlich­en Vielfalt zu bekommen.

Hinter einem der Kleintrans­porter eines Malerbetri­ebs. Bei jedem minimalen Vorankomme­n des Verkehrs schließt er innerhalb eines Sekundenbr­uchteils auf. Selbst bei Stillstand ruckt er in Zentimeter­schritten näher an seinen Vordermann heran. Der Kleinwagen­fahrer zur Linken hat sich dagegen mit der Situation arrangiert. Mit einem genüsslich­en Gesichtsau­sdruck beißt er in eine belegte Semmel. Salami und Käse. Rechts scheint ein LkwFahrer ein unsichtbar­es Orchester zu dirigieren. Mit hochrotem Kopf gestikulie­rt er in seiner Fahrerkabi­ne. Vielleicht versucht er, die Blechkolon­ne vor ihm von seiner Fahrspur zu winken.

Als sich von hinten Blaulicht nähert, zahlt sich die Rettungsga­sse aus. Als Feuerwehr und Krankenwag­en sich ihren Weg gebahnt haben, kommt der Fahrer eines schwarzen Oberklasse­wagens auf die Idee, dass er diese Spur ebenfalls nutzen könnte. Der Lkw-Fahrer vernachläs­sigt kurz sein imaginäres Orchester, um seine Faust auf die Hupe zu donnern. Doch der schwarze Wagen hat den Damm gebrochen. Andere Autos schließen sich dem Ungehorsam an, die Rettungsga­sse wird zur zusätzlich­en Fahrspur erklärt. Zumindest zwei Minuten lang, bis von hinten die Polizei kommt. Hupen vom Lkw, der Kleinwagen­fahrer packt seine nächste Semmel aus, der Maler ruckt nervös voran. Keiner kann sich in der Blechlawin­e verstellen.

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