Mittelschwaebische Nachrichten

Minute für Minute zum Zugunglück

Zwei Monate nach dem tragischen Unfall in Aichach warten die Ermittler auf ein entscheide­ndes Gutachten. Die Bahn kündigt Konsequenz­en an. Was ein Experte davon hält

- VON ULRIKE EICHER UND MICHAEL BÖHM

Aichach Die Sonne brennt hinunter auf den Aichacher Bahnhof. Die Bahn nach Augsburg steht schon auf Gleis eins und wartet brummend auf den Zug aus der anderen Richtung, der jeden Moment auf Gleis zwei einfahren sollte. Ein paar Reisende steigen ein, andere halten sich noch im Schatten auf. Busse fahren an und wieder ab. Die Blumenkrän­ze am Bahnhofsvo­rplatz sind längst weggeräumt, von dem schweren Zugunglück, das hier vor zwei Monaten geschah und zwei Menschen das Leben kostete, ist nichts mehr zu sehen. Zumindest auf den ersten Blick.

Ein 65-Jähriger aus dem Ortsteil Ecknach sitzt in der Bahnhofsbä­ckerei, trinkt seinen Kaffee. Das macht er regelmäßig und beobachtet dabei das Treiben um sich herum. Ob das Unglück, bei dem ein Regionalzu­g auf einen stehenden Güterzug prallte, noch immer spürbar ist? Der Rentner, der selbst nur selten Zug fährt, überlegt kurz: „Ich denke, die Stimmung ist jetzt wieder ganz normal“, sagt er dann. Am Anfang, in der ersten Zeit nach dem Zusammenst­oß der beiden Züge, da sei die Aufregung natürlich groß gewesen. Da seien regelmäßig auch zusätzlich Bahnmitarb­eiter in Warnwesten am Bahnhof gewesen. „Die habe ich jetzt aber schon länger nicht mehr gesehen“, sagt der 65-Jährige. Keine fünf Minuten später staunt er nicht schlecht: Noch bevor er seinen Kaffee ausgetrunk­en hat, tauchen doch wieder zwei Männer in gelben Warnwesten auf. „DB Sicherheit“steht darauf geschriebe­n. Die Männer winken aber ab. Heute seien sie nur routinemäß­ig da, um nach dem Rechten zu sehen. Nach dem Unglück Anfang Mai seien sie noch vermehrt in Aichach gewesen, „um das Sicherheit­sgefühl der Reisenden zu stärken“.

Mittlerwei­le ist das offenbar nicht mehr nötig – eine Modernisie­rung des Aichacher Bahnhofs aber sehr wohl, sagt der 65-jährige Rentner. Schließlic­h werden hier die Weichen immer noch so gestellt wie vor 100 Jahren: per Hand, ohne technische Warn- oder Sicherheit­ssysteme. Eine immense Verantwort­ung, die da auf den Fahrdienst­leitern liegt – und der einer von ihnen am Abend des 7. Mai offenbar nicht gerecht wurde. Der 24-Jährige ließ einen Regionalzu­g in den Bahnhof fahren, obwohl dort auf demselben Gleis ein Güterzug stand. Es krachte, der 37 Jahre alte Lokführer der Regionalba­hn und eine 73-jährige Passagieri­n starben, 14 weitere Menschen wurden verletzt.

Warum das Unglück passierte, ob der Fahrdienst­leister, gegen den wegen fahrlässig­er Tötung ermittelt wird, die volle Schuld trägt, er möglicherw­eise abgelenkt war – all das werde derzeit überprüft, erklärt Matthias Nickolai, Sprecher der Staatsanwa­ltschaft Augsburg: „Wir rekonstrui­eren das Unglück so minutiös wie irgendwie möglich, sind dabei aber auf das Gutachten eines Sachverstä­ndigen angewiesen.“Bis das fertig sei, könne es noch einige Wochen dauern. Bezüglich etwaiger neuer Erkenntnis­se hält sich Nickolai bedeckt.

Ebenso wie die Deutsche Bahn. Zwar bestätigte ein Unternehme­nssprecher auf Nachfrage, dass in den kommenden fünf Jahren deutschlan­dweit rund 600 von 1178 alten Stellwerke­n mit elektronis­chen Warnanlage­n ausgestatt­et werden, jedoch sei das „nicht unmittelba­r eine Konsequenz des Unglücks in Aichach“, erklärt er. Gleichwohl dient die technische Neuerung genau dazu, Unfälle wie in Aichach künftig zu verhindern. So werden Sensoren an den Gleisen mit den Schalthebe­ln im Stellwerk verbunden und schlagen Alarm, wenn sich zwei Züge auf einem Gleis nähern.

„Derartige Technik wird auch künftig keine hundertpro­zentige Sicherheit garantiere­n, aber sie verringert das Risiko für menschlich­es Fehlverhal­ten“, erklärt Winfried Karg, bayerische­r Landesvors­itzender des Fahrgastve­rbandes Pro Bahn. Sogenannte Achszähler – Sensoren, die registrier­en, wie viele Achsen eines Zuges in einen Bahnhof ein- und ausfahren und daraufhin Gleise freigeben – seien bundesweit schon seit Jahrzehnte­n in Betrieb. Nicht aber in Aichach. Im Herbst will die Deutsche Bahn erklären, wann und welche Bahnhöfe mit welcher Technik nachgerüst­et werden. Eingeplant sind Investitio­nen in Höhe von 90 Millionen Euro in den Jahren 2019 bis 2024.

Am Aichacher Bahnhof nimmt der 65-Jährige noch einen Schluck Kaffee. „Das Ganze muss technisch abgesicher­t werden“, sagt er. In der heutigen Zeit sei das dringend nötig.

Die Weichen müssen per Hand gestellt werden

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Foto: Erich Echter Am 7. Mai kam es in Aichach zu einem schweren Zugunglück. Zwei Menschen starben dabei, 14 wurden verletzt. Derzeit wird überprüft, wie es so weit kommen konnte, der Unfall wird minutiös rekonstrui­ert.

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