Mittelschwaebische Nachrichten
Ein Haus, das viele Geschichten erzählen kann
Seit 70 Jahren gibt es das Alten- und Pflegeheim in Burtenbach. Was das Schertlinhaus zu etwas Besonderem macht – und wie die Menschen dort leben
Burtenbach Dieses Haus kann viele Geschichten erzählen: Die jüngste begann vor neun Jahren. Seit März 2009 ist das Alters- und Pflegeheim „Schertlinhaus“Heimat für 60 Menschen, Schwerpunkt demenzkranke Personen. Diese, besonderer Betreuung bedürftigen Bewohner leben in beschützten Gruppen. Dank eines aufwendigen Umbaus des „Haus 2“haben sie die Möglichkeit, sich auch im Freien allein zu bewegen. Ein dafür angelegter Garten führt die Bewohner immer wieder zurück in ihren Wohnbereich. Darüber hinaus bietet die Einrichtung eine Tagespflege, Kurzzeitpflege, eine zusätzliche sozialtherapeutische Wohngruppe und einen mobilen Mahlzeitendienst.
Getragen wird die Einrichtung von der Rummelsberger Diakonie, die vor 70 Jahren aus dem Fränkischen kommend das Gebäude oberhalb der Kirche kaufte und in ein Alten- und Pflegeheim umwandelte. Es war lange Zeit das Einzige im Landkreis unter evangelischer Trägerschaft. Bis, so erinnert sich Diakon Jürgen Kühn, nach einer Novelle des Sozialgesetzbuches eine dezentrale Unterbringung älterer und pflegebedürftiger Menschen die Rummelsberger Diakonie veranlasste, ein weiteres Alten- und Pflegeheim in Leipheim einzurichten. Der stationären Pflege wurde vor 20 Jahren, als eine organisierte häusliche Pflege bundesweit aufgebaut wurde, auch eine ambulante Einrichtung angegliedert, die die Arbeit der bis damals tätigen Dorfschwestern übernahm und seither die Aufgaben eines modernen ambulanten Pflegedienstes versieht.
In den vergangenen 70 Jahren, unter der Leitung der Rummelsberger Anstalten, hat das Schertlinhaus mehrere einschneidende Veränderungen erfahren. Ende der 60erJahre war es unter älteren Menschen Mode geworden, ihren Lebensabend in einem Heim zu verbringen. Die Rummelsberger errichteten aufgrund der Nachfrage ein zweites Haus, das über einen überdachten Wandelgang mit dem weiter unten stehenden Haus verbunden wurde. Bereits wenige Jahre später wurde das alte Schertlinhaus in großen Teilen abgebrochen, historische Teile des „Amtshauses“blieben erhalten und wurden in den Neubau integriert. Es entstand eine luxuriöse Seniorenresidenz mit Saunalandschaft und Bewegungsbad, PhysioPraxis und Tanzsaal. Auch eine Krankenpflegehelferschule mit Unterkünften wurde eingerichtet. Damals, 1977, war das Schertlinhaus mit 214 Plätzen die größte Einrichtung dieser Art im Landkreis.
Das Heim hatte aber von Beginn an ein gravierendes Problem: Das Schertlinhaus war nicht in den Ort integriert. „Das erklärt sich aus seiner Geschichte heraus“, weiß Pfarrer Norbert Riemer, der sich intensiv mit der Historie Burtenbachs und des Schertlinhauses auseinandergesetzt hat. Die Anlage geht weit zurück: Das Haus war einst das Amtshaus der Barone Schertel, zeitweise auch als „Inneres Schloss“Wohnsitz der Burtenbacher Schertellinie. Norbert Riemer konnte seine Geschichte bis ins frühe 16. Jahrhundert zurückverfolgen.
Spannend wurde es mit dem Ende des 19. Jahrhunderts. 1895 verkaufte Schertel das Areal an den Pfarrer Ernst Zech, der eine höhere Töchterschule einrichtete. Im Lyzeum (entspricht dem heutigen Gymnasium) „Schertlinhaus“und der später angegliederten Gartenbauschule erhielten Mädchen aus ganz Deutschland und dem angrenzenden Ausland Unterricht, sogar eigene muttersprachliche Konversationslehrerinnen für die englische und französische Sprache wurden nach Burtenbach verpflichtet. Eine Turnhalle im Jugendstil wurde gebaut, Tennisplätze angelegt. Die Schule genoss einen guten Ruf, doch 1938/39 wurde ihr die staatliche UnterstütAlte zung entzogen. Das Lyzeum wurde geschlossen, der Reifensteiner Verband übernahm und führte die Schule als „Landfrauenschule“fort. Auch diese richtete sich vornehmlich an junge Frauen aus begütertem Haus, vornehmlich aus dem Norden und Osten Deutschlands, und bot ihnen eine standesgemäße Berufsausbildung. Im Februar 1945 wurde der Schulbetrieb eingestellt. Schon zuvor hatte der aus Burtenbach stammende Landesbauernführer Johann Deininger das Archiv seiner Institution von München ins Schertlinhaus verlegen lassen. Mit dem Einzug der Amerikaner in Burtenbach endete die schulische Ära des ehemaligen Amtshauses.
1946 leitete die letzte große Wende des Schertlinhauses ein: 600 Vertriebene aus Reichenberg werden dort untergebracht. Es ist eine Gemeinschaft, deren Kern 40 Kriegsinvaliden aus dem Ersten Weltkrieg bilden. Sie sind Handwerker, die in der ehemaligen Turnhalle mit ihren geretteten Maschinen neue Werkstätten begründen. Die einstige Schule wird im gleichen Jahr an die Innere Mission verkauft.
Schon bald entsteht ein Plan, ein „Flüchtlings-Siechenheim“einzurichten, in dem 150 Heimatvertriebene ihr eigenes Alten- und Pflegeheim erhalten sollen. Dazu müssen allerdings die 194 noch immer in den Gebäuden untergebrachten Personen umgesiedelt werden. Für die Werkstätten wird eine eigene Baracke errichtet, Um- und Neubauten nach einem Brand werden nötig. Bereits 1947 ist der erste Vertreter der Rummelsberger Anstalten vor Ort, die die Einrichtung im August 1948 dann offiziell übernehmen. „Die Einrichtung des Altenheims speziell für Heimatvertriebene war der Integration in die Ortsgemeinschaft nicht förderlich. Auch wenn in den folgenden Jahren einige Burtenbacher ins Schertlinhaus kamen“, ist sich Pfarrer Riemer sicher. „Verstärkt wurde die Ausgrenzung aus dem Ort durch die Tatsache, dass im Schertlinhaus nicht nur alte Menschen untergebracht waren. Wir erhielten auch Einweisungen aus dem BKH Günzburg, aus Kaufbeuren und nach der Auflösung von Irrsee auch von dort Personen zugewiesen. Aufgrund dieser Belegung war das Schertlinhaus von der Öffentlichkeit abgeschlossen“, erklärt Jürgen Kühn.
Diese Zeit der Abschottung hing dem Ruf des Hauses lange nach. Der Neubau 1977 sollte eine neue Ausrichtung signalisieren. Mit der Änderung des Sozialgesetzbuches hörten die Einweisungen auf. Zugleich gab es aber auch eine grundlegende Veränderung der Bedarfsstruktur: Menschen wollen so lange wie möglich ihre Selbstständigkeit bewahren. Das wirkte sich auf den Bedarf an Altenheimplätzen aus. Anstatt fröhlicher, selbstständiger Senioren, die baden gehen und sich in der Sauna treffen, sind viele der heutigen Altenheimbewohner pflegebedürftig, ein Großteil mit mehr oder minder ausgeprägter Demenz. Dem musste auch Rummelsberg Rechnung tragen. Aufgrund der baulichen Bedingungen entschloss sich der Träger, das Haus 1 stillzulegen. Das 1971 erbaute Haus 2 wurde bedarfsgerecht umgebaut und saniert. Wo einst über 200 alte Menschen untergebracht waren, ist heute Platz für 60. Gleichzeitig pflegt das Schertlinhaus gezielt die Integration in den Ort. Die Türen des Hauses sind offen, Gäste willkommen. Seit geraumer Zeit feiern die Rummelsberger alljährlich ihr Sommerfest, zu dem auch die Marktbewohner eingeladen sind. In diesem Jahr verbinden sie damit ein doppeltes Jubiläum: 70 Jahre Alten- und Pflegeheim der Rummelsberger Anstalten, 20 Jahre ambulanter Pflegedienst. Mit ihrem bunten Programm, gemischt aus fröhlichen Feiern und Informationen, wollen die Rummelsberger möglichst vielen Gästen zeigen, dass sie eine kompetente Pflegeeinrichtung unterhalten, die im Markt angekommen ist. Die öffentliche Jubiläumsfeier fand am gestrigen Sonntag statt.
Früher lernten hier „höhere Töchter“
Der Ruf der Abschottung hing dem Haus lange nach