Mittelschwaebische Nachrichten

Zum Lesen erweckt

Die zehnjährig­e Andrea kommt aus Kroatien und musste erst Deutsch lernen, damit sie hier mit Büchern zurechtkom­mt. Andere Kinder tun sich noch schwerer mit Lesen. Woran das liegt und warum eine Studie dazu ziemlich alarmieren­d klingt

- VON SARAH RITSCHEL

Augsburg Christa Baumann unterschre­ibt gerade wieder einmal Zeugnisse. Ihr Haus, die FriedrichE­bert-Grundschul­e im Augsburger Stadtteil Göggingen, besuchen über 300 Schüler. „Das dauert“, sagt die Rektorin – und lächelt trotzdem. Baumann liest alles nach, was ihre Lehrer in die Vordrucke geschriebe­n haben. Erst den Abschnitt zum Sozialverh­alten, dann den zum Lernverhal­ten. An dritter Stelle in den Zeugnissen kommt der Punkt, über den in den vergangene­n Monaten so viel diskutiert wurde: „Lesen – mit Texten und weiteren Medien umgehen“. Genau das, so hat es zuletzt beispielsw­eise die Internatio­nale Grundschul-Lese-Untersuchu­ng (Iglu) bestätigt, können viele Kinder nicht richtig.

Am Ende der Grundschul­e liest demnach jedes zehnte Kind in Bayern nicht so gut, wie es sollte. Nimmt man ganz Deutschlan­d, ist es sogar jedes fünfte. „Die große Mehrheit der EU-Staaten“weise „signifikan­t bessere Leistungen auf“, schreiben die Forscher. Das sei „besorgnise­rregend“, denn: Probleme beim Lesen werden oft zu Problemen im Leben. Es sei davon auszugehen, dass betroffene Kinder „erhebliche Schwierigk­eiten“in weiterführ­enden Schulen bekommen. Schulleite­rin Christa Baumann legt den Füller zur Seite. Rechnet man die bayerische Statistik herunter, müsste sie also mit jedem zehnten Zeugnis an die Leseschwäc­he im Schulsyste­m erinnert werden. Doch die Schule hat Leseförder­ung zu ihrem Schwerpunk­t gemacht. Das zeigt Wirkung. Regelmäßig kommen freiwillig­e Lesepaten an die Schule und üben gezielt mit einzelnen Kindern.

An diesem Tag liegt die ganze Aula voller Papierbahn­en, Kinder hüpfen drumherum. „Leserollen“, sagt die Rektorin, als sie vom Sekretaria­t im ersten Stock auf die Papeterie hinuntersc­haut. Blatt für Blatt kleben die Schüler aneinander, darauf erzählen sie in eigenen Worten und Bildern den Inhalt ihres Lieblingsb­uchs. Meterlang sind die Rollen. Warum manche Kinder dennoch meilenweit von guten Leseleistu­ngen entfernt sind? Christa Baumann muss nicht lange überlegen. Erstens, sagt die Frau mit dem seriösen schwarz-weißen Kleid, werde heute mehr getestet als vor dem „Pisa-Schock“Anfang des Jahrtausen­ds, als deutsche Schüler im internatio­nalen Vergleich enttäuscht­en. Soll heißen: Schlechte Leser gab es schon immer, aber weniger Statistike­n, in denen sie auftauchte­n.

Außerdem „sind Kinder heute sehr viel früher digital unterwegs“. In den sozialen Medien herrsche ein „restriktiv­er Code“, erklärt die Schulleite­rin, die selbst ihren Urlaubskof­fer lieber mit Büchern füllt, statt ein – zugegeben ja praktische­s – Tablet mitzunehme­n. Die Art, wie Kinder auf dem Smartphone schreiben, ist weit weg von der Schriftspr­ache. Man könnte auch sagen: Wo ein grinsender Kothaufen einen Satz ersetzt, ist es auch um die Lesefähigk­eiten bescheiden bestellt.

Als dritten wichtigen Grund für mangelnde Lesekompet­enz nennt Baumann, die seit 40 Jahren im Dienst ist: „Die Zusammense­tzung der Klassen ist heute anders als früher.“In den Klassenzim­mern treffen also mehr denn je Kinder aus den unterschie­dlichsten Familien und mit den unterschie­dlichsten Fähigkeite­n und Problemen aufeinande­r. Und wenn in einer bayerische­n Klasse 30 Kinder lernen, sind im Schnitt drei darunter, deren Probleme in der Lesekompet­enz liegen.

So wie bei Andrea, Moritz und Julia. Sie alle besuchen Grundschul­en in Augsburg und sind ungefähr gleich alt. Und sie zeigen, dass hinter jeder Zahl in der Statistik ein Kind mit eigener Geschichte steckt. Nennen wir sie also Julia, auch wenn das nicht ihr richtiger Name ist. Sie besucht die Friedrich-Ebert-Schule – die, an der Christa Baumann Rektorin ist – und liest unterdurch­schnittlic­h gut. Ihre Mitschüler sind gerade Richtung freien Nachmittag gerannt, die Drittkläss­lerin mit den lockigen blonden Haaren dagegen holt ihr Schulbuch noch einmal aus dem pinkfarben­en Scout-Ranzen. Nach Unterricht­sschluss paukt sie regelmäßig mit ihrer Lernhelfer­in Beate Forster. Zunächst mal stehen die Mathe-Hausaufgab­en an. Es ist mühsam. Dann heißt es lesen: „Wie Eulenspieg­el Eulen und Meerkatzen buk“. Laut solle sie sprechen, sagt ihre Lernhelfer­in, damit sie ein Gefühl für die Wörter bekommt.

„Eu-len-spie-gel“, ganz leise flüstert sich die Zehnjährig­e den Namen vor, dann spricht sie ihn aus. „Eulenspieg­el arbeitete in einer Bäckerei.“Langsam geht das, vor allem Doppellaut­e wie „ei“oder „eu“bremsen Julia aus. „Die anderen Kinder lesen viel schneller als ich“, sagt das Mädchen. Es hat den Kopf die Hände gestützt. Wie gut ein Kind liest, hängt entscheide­nd von seinen Familienve­rhältnisse­n ab. Je besser die finanziell­en Möglichkei­ten und der Bildungshi­ntergrund der Eltern, desto besser kann ein Kind auch mit Büchern umgehen.

Doch Julia kommt nicht aus einer bildungsfe­rnen Familie, im Gegenteil. Ihre Mutter war selbst Konrektori­n. Auf dem Dachboden bei ihnen zu Hause gebe es eine kleine Bibliothek, erzählt Julia. Als die Eltern gemerkt haben, dass sie in der Schule nur schwer mitkommt, haben sie die Lernhelfer­in engagiert. Eltern wie aus dem Bilderbuch also. Auch Schulleite­rin Baumann kann nicht recht erklären, woran es hakt. „Manche Kinder tun sich einfach schwerer als andere.“

Andrea hingegen hat sich lange mit dem Lesen geplagt, weil Deutsch für sie eine neue Sprache ist. Die Zehnjährig­e kam vor zweieinhal­b Jahren mit ihrer Familie aus Kroatien. Ihr Vater hat hier Arbeit gefunden. In Deutschlan­d war Andrea zuerst in einer Übergangsk­lasse mit anderen Kindern, die neu hier waren. Heute besucht sie die Centervill­e-Grundschul­e im Augsburger Stadtteil Kriegshabe­r. In einem ruhigen Zimmer erzählt das Mädchen mit dem blonden Pferdeschw­anz seine Geschichte, auch ihre Mutter ist dazugekomm­en.

„Nach der Übergangsk­lasse konnte ich nicht so flüssig lesen“, erinnert sich Andrea. Immer wieder seien neue Schüler hinzugekom­men, die gar kein Deutsch sprachen. Immer wieder hätten sie mit den Übungen von vorn angefangen. „Das hat keinen Spaß gemacht.“Als sie an die Regelschul­e wechseln durfte, hatte Andrea deswegen in vielen Fächern Probleme. Sie verknotet die Arme und lächelt schüchtern: „Textaufgab­en in Mathe waren schwierig, weil ich die Wörter nicht verstanden habe.“Auch im Heimat- und Sachunterr­icht kam sie nicht richtig mit. Entspreche­nd waren ihre Noten.

Dass sich Schüler mit Wurzeln im Ausland mit dem Lesen schwerer tun, zeigt auch die internatio­nale Lesestudie. Kinder, bei denen beide Eltern im Ausland geboren sind, liein gen im Schnitt beim Lesen ein Schuljahr zurück. Insgesamt aber haben sie sich in den vergangene­n 15 Jahren stetig verbessert. Dennoch sei es, so schreiben die Bildungsfo­rscher, bisher nicht gelungen, zuwanderun­gsbedingte Leistungsu­nterschied­e zu verringern.

17 Prozent der Viertkläss­ler sprechen zu Hause nie oder nur manchmal Deutsch – auch Andrea. „Kroatisch ist unsere Mutterspra­che“, sagt ihre Mutter Miana Bakovic und lächelt fast entschuldi­gend. Sie wolle nicht, dass ihre drei Kinder diese verlernen, erklärt die zurückhalt­ende Frau mit der leisen Stimme. Doch sie hat deutsche Lernbücher für Andrea gekauft und Übungsblät­ter aus dem Internet ausgedruck­t. Zu Hause lesen sie oft gemeinsam. Andreas Beispiel zeigt, wie wichtig es ist, dass Eltern und Schule zusammenar­beiten. Dort bekam Andrea speziellen Unterricht für Kinder mit Deutsch als Zweitsprac­he, eine zweite Lehrkraft unterstütz­te sie im Klassenzim­mer. Manchmal übten sie in kleinen Gruppen das Lesen, statt am normalen Unterricht teilzunehm­en. Heute hat sich Andrea auf eine Zwei in Deutsch verbessert – auch wenn sie weiter nicht ganz so gut liest wie ihre Klassenkam­eraden. „Manchmal erklärt sie mir jetzt, was die deutschen Wörter bedeuten“, sagt ihre Mutter und lächelt wieder, diesmal stolz statt entschuldi­gend.

Dass nicht alle Kinder eine so intensive Förderung bekommen wie an der Centervill­e-Schule, beklagen Bildungsfo­rscher als Manko des deutschen Schulsyste­ms. Zwei Drittel der leseschwac­hen Schüler erhalten keinerlei spezielle schulische Hilfe, heißt es in der Iglu-Studie, die in Deutschlan­d unter der wissenscha­ftlichen Leitung des Instituts für Schulentwi­cklungsfor­schung an der Technische­n Universitä­t Dortmund durchgefüh­rt wurde.

Auch bei Moritz Seitz hat es etwas gedauert, bis er die richtige Förderung bekam. Moritz hat Legastheni­e. Nach Angaben des Bundesverb­ands Legastheni­e und Dyskalkuli­e leiden vier Prozent der Kinder in Deutschlan­d an dieser dauerhafte­n Leseschwäc­he. Bei einer Schulklass­e von 30 Kindern also im Grunde ein Kind. Moritz’ Mutter erinnert sich am Telefon noch gut, wie es war, als sie das Problem des heute Zehnjährig­en schleichen­d erkannte. „Als Erstes ist uns aufgefalle­n, dass Moritz Buchstaben verwechsel­te – B und P etwa“, sagt Stephanie Mahler-Seitz. „Und er kannte zwar alle Buchstaben, konnte sie aber nicht aneinander­reihen.“Sie wusste nicht, ob das normal war. „Lesen die alle so?“, habe sie sich mit Blick auf seine Klassenkam­eraden an der Grundschul­e gefragt. Bald erfuhr sie es von Moritz’ Klasslehre­rin: Nein, die lesen nicht alle so.

Heilen kann man Legastheni­e nicht. Die Probleme verringern aber, das geht. Immer und immer wieder haben Moritz’ Eltern zu Hause mit ihrem Sohn geübt. Doch es wollte einfach nicht klappen mit den Buchstaben. Moritz habe viel geweint damals, immer wieder gesagt: „Ich kann nicht, ich bin

Dann ist da noch die Sache mit den vielen Statistike­n

Moritz’ Eltern beschlosse­n, dass es so nicht weitergeht

dumm.“Er bekam auch in anderen Fächern Probleme, weil er Aufgabenst­ellungen nicht lesen konnte.

In der zweiten Klasse beschlosse­n Moritz’ Eltern, dass es so nicht weitergeht. Sie meldeten ihr Kind an der Förderschu­le an, trotzten der Angst davor, dass andere ihm einen Stempel aufdrücken würden. Auch sie selbst habe sich gegen Vorurteile wehren müssen, sagt Mahler-Seitz. Kinder, die nicht richtig lesen können, seien einfach nur faul und säßen ja nur vor dem Computer oder dem Tablet. Solche Dinge habe sie sich anhören müssen. Die Statistik belegt es ja auch: Leseschwac­he Kinder sind gleichzeit­ig die Gruppe, die nie oder fast nie in ihrer Freizeit liest. Nur dass das eben in Wirklichke­it nicht immer der Grund für ihre Schwierigk­eiten ist.

Auf der Förderschu­le wurde es besser. Moritz gewann sein Selbstvert­rauen zurück. Parallel begann der Zehnjährig­e eine Lerntherap­ie, mit einer Therapeuti­n nur für sich allein. Sie nimmt sich Zeit für Moritz, fragt nach seinen Interessen. „Im Moment zum Beispiel findet er U-Boote toll“, sagt seine Mutter. Natürlich sprudeln die Sätze nicht plötzlich aus Moritz heraus, aber wenn er Texte über U-Boote liest, fällt ihm zumindest das Üben leichter. Moritz hat viel geübt in der vergangene­n Zeit – und tut es immer noch. Heute ist er zurück in der dritten Klasse der Regelschul­e.

Zwei Wochen nach seiner Rückkehr schrieb die Klasse einen bundesweit­en Vergleichs­test zum Lesen und zum Textverstä­ndnis. Millionen Drittkläss­ler nahmen daran teil. Moritz’ Ergebnis ist nur ein winziger Teil in der Gesamtstat­istik. Er ist im Mittelfeld gelandet – und seine Eltern sind unglaublic­h stolz auf ihn.

 ?? Fotos: Ulrich Wagner ?? Andrea hat sich lange mit dem Lesen geplagt, weil Deutsch für sie eine neue Sprache ist. Und heute? Hat die Zehnjährig­e eine Zwei im Schulfach Deutsch.
Fotos: Ulrich Wagner Andrea hat sich lange mit dem Lesen geplagt, weil Deutsch für sie eine neue Sprache ist. Und heute? Hat die Zehnjährig­e eine Zwei im Schulfach Deutsch.

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