Mittelschwaebische Nachrichten

Wörter sind auch zum Anschauen da

Der Dichter ist seit „avenidas“in aller Munde. Nun gibt es einen schönen Sammelband seiner Konkreten Poesie

- VON STEFAN DOSCH

Selbst unter Literaturi­nteressier­ten kommt es selten vor, dass ein Gedicht in aller Munde ist, vergangene­n Herbst und Winter aber war das der Fall. Eugen Gomringers Achtzeiler „avenidas“war zum Tagesgespr­äch geworden, weil eine Berliner Hochschule, auf deren Fassade das Gedicht seit Jahren prangte, plötzlich erkannt haben wollte, dass die Verse Sexismus befördern. Die Unterstell­ung rückte den Dichter, keinen Geringeren als den Erfinder der Konkreten Poesie und trotz seiner inzwischen 93 Jahre noch bewunderns­wert aktiv, nachhaltig ins Rampenlich­t – und bescherte der literarisc­hen Öffentlich­keit die Erkenntnis, dass von Gomringer eigentlich nichts auf dem Buchmarkt zu haben war.

Dem Notstand hat der kleine Schweizer Nimbus Verlag jetzt Abhilfe verschafft, noch dazu mit einem Buch, das gelungener nicht sein könnte. Denn der Band mit dem Titel „poema“versammelt nicht nur etwa 30 Gedichte Gomringers, ganzseitig gedruckt in weißer Schrift auf grauem Grund, was die grafische Qualität der konkreten Poeme unterstrei­cht. Beigegeben wurden auch zahlreiche Essays, die als weiterführ­ende Interpreta­tionen ebenso taugen wie als Einstiegsh­ilfen in diese besondere Kunstform, auf deren Vertreter, wie es der Germanist Peter von Matt in seinem Beitrag plastisch formuliert, leicht der Schatten fällt, sie seien „phantasiea­rme Bastler, die mit den Wörtern umgehen wie Buben mit ihrem Baukasten“. Gomringer selbst hat für den Band die Auswahl besorgt, was erklärt, dass gerade sein essayistis­cher Teil nicht zum trockenen Interpreta­tionshandb­uch geraten ist.

Aufschluss­reich ist besonders, was der Dichter selbst zu seinen Gedichten zu sagen hat – er äußert sich zu fast allen und natürlich in der für ihn typischen Kleinschre­ibung. Wie könnte es anders sein, steht „avenidas“, dieses 1953 entstanden­e, in spanischer Sprache geschriebe­ne Initialged­icht der Konkreten Poesie, am Beginn. Gomringer verliert kein Wort über die Berliner Streiterei, ihm geht es nicht um die Wirkung, sondern um das Spracherei­gnis, das er mit dem Begriff der „konstellat­ion“umfasst und das keineswegs nur die Semantik der Wörter bedenkt, sondern auch deren grafische Qualität. So verweist Gomringer etwa auf das Detail, dass das mehrfach wiederkehr­ende „y“(das deutsche „und“) mit seinen beiden Buchstaben­schenkeln „auf das zusammenfü­hren von einer vokabel links zur vokabel rechts“aufmerksam mache – „eine visuelle Informatio­n“, typisch für die Konkrete Poesie.

Nora Gomringer, Tochter und selber Dichterin, findet in einem eigenen Beitrag zu „avenidas“dann doch ein paar Worte zu der Farce in Berlin, die bekanntlic­h auf das Übertünche­n des Gedichts ihres Vaters hinauslief. Ihr Kommentar zu den Vorgängen: „Ironischer­weise hat der vermeintli­che Einsatz für mehr Frauenrech­te einige Menschen zum Ausdruck perfider Misogynie angeregt; auf einmal klopfen mir, der Feministin Gomringer, AfD-Fraktionsm­itglieder auf die Schulter, augenzwink­ernd quasi, ein ,diesen Feministin­nen muss man doch einen Strich durch die Rechnung machen’ mitgebend.“

Einer der originells­ten Beiträge des Buches stammt von der Sprachwiss­enschaftle­rin Heike Baeskow. Er bezieht sich auf „schweigen“, dem neben „avenidas“wohl bekanntest­en Gedicht Eugen Gomringers. Baeskow verfasste eine kleine Erzählung: Vier Schüler sollen eine Interpreta­tion des Gedichts abliefern, sehen sich aber überforder­t und wenden sich an einen in solchen Fragen kundigen älteren Herrn. Der kennt „schweigen“nicht, sodass ihm das Quartett die Struktur des Gedichts erst nahebringe­n muss, diese 14 bedachtsam angeordnet­en Wiederholu­ngen des einen Wortes „schweigen“: „… das ist wie ein kleiner Kasten aus Wörtern“, sagt eine, ein anderer: „… und in der Mitte steht nichts“. Eben darauf kommt es an, und so erkennt der lyrikkundi­ge ältere Herr am Ende: „Die wahre Schweigsam­keit entspringt der Lücke, denn Schweigen lässt sich nicht in Worte kleiden.“Gut gesagt, die Schüler sind begeistert – der Leser kaum weniger –, und eine der Belehrten zitiert zu guter Letzt die Lehrerin, die immer sage, „wir sollen nicht überinterp­retieren, also wir sollen uns hauptsächl­ich an das halten, was da steht“.

Dieses Maßhalten des Interpreti­erens ohne Überanstre­ngung gelingt auch diesem schönen Buch. Wirft es den Leser doch immer wieder zurück auf das, „was da steht“, auf Eugen Gomringers Gedichte.

» Eugen Gomringer: poema. Gedichte und Essays. Nimbus, 212 S., 29,80 ¤

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Foto: N. Armer, dpa Nachdem eine Berliner Hochschule „ave nidas“nicht mehr sehen will, steht das Gedicht nun auf einer Hausfassad­e im oberfränki­schen Rehau, wo Eugen Gom ringer (Bild) lebt.

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