Mittelschwaebische Nachrichten

Plötzlich ein ganz anderes Leben

Immer mehr Menschen überleben schwere Unfälle oder Schlaganfä­lle. Oft aber mit Hirnschädi­gungen. Der Weg zurück in die Arbeit ist schwer – in Kaufbeuren wird ihnen geholfen. Bei diesem Projekt soll es nicht bleiben

- VON DANIELA HUNGBAUR

Kaufbeuren Sie arbeitete als Bürokauffr­au. Die beiden Männer neben ihr als Kfz-Mechatroni­ker und im Schichtdie­nst in einer Käserei. Heute scannen sie Bücher ein. Gebrauchte, gespendete Bücher, die bei Amazon wieder verkauft werden. Alle drei sind froh, die Arbeit zu haben. Denn sie schult ihre Konzentrat­ionsfähigk­eit, ihre Feinmotori­k – vor allem sind sie unter Menschen, die alle das gleiche Schicksal eint: Von einer Sekunde auf die andere war ihr altes Leben vorbei. Die beiden Männer, 37 und 39, überlebten schwere Verkehrsun­fälle, die Frau im Rollstuhl war 36 Jahre alt, als an einem Nachmittag plötzlich in ihrem Kopf ein Aneurysma platzte. Es sind Menschen mit einer erworbenen Hirnschädi­gung, die in den Wertachtal-Werkstätte­n in Kaufbeuren eine berufliche Reha machen. 27 Monate dürfen sie bleiben.

Ihre Beeinträch­tigungen sind unterschie­dlich: Die 54-jährige Rollstuhlf­ahrerin, die an den Folgen eines Aneurysmas leidet, kämpft mit einer Lähmung ihrer linken Körperhälf­te, doch sie betont selbstbewu­sst: „Ich bin behindert, nicht bescheuert.“Ihr Kurzzeitge­dächtnis macht ihr gelegentli­ch Probleme, ihr Langzeitge­dächtnis funktionie­rt aber. Der 37-Jährige hinkt noch ein wenig, spricht etwas undeutlich. Doch wie seine Kollegin musste er alles neu erlernen: sprechen, laufen, lesen, schreiben. Und er macht sehr gute Fortschrit­te. Sein 39-jähriger Kollege hatte mit 20 einen Autounfall. Dem freundlich­en, aufgeschlo­s- Mann ist auf den ersten Blick gar keine Beeinträch­tigung anzusehen. Doch er kann sich weder Gesichter noch Namen merken. Auf einem Auge ist er blind. „Ich weiß, ich leide selbst am meisten unter meinem Handicap“, sagt er. Er findet kaum Freunde, beendete seine Arbeit als Altenpfleg­er wieder, weil ihm sein ständiges Nachfragen, sein ständiges Entschuldi­gen, seine Sonderroll­e so unerträgli­ch waren.

Roland Haag kann sich in alle drei sehr gut hineinvers­etzen. Der Psychologe arbeitet seit 1998 in den Wertachtal-Werkstätte­n. Er weiß, was es heißt, mit einer erworbenen Hirnschädi­gung zu leben. Er weiß, dass den Betroffene­n meist kaum Freunde bleiben, Familien oft auseinande­rbrechen, Ehen geschieden werden. Als er in der Einrichtun­g begonnen hatte zu arbeiten, kamen immer wieder Menschen, die schwere Unfälle oder Erkrankung­en wie einen Schlaganfa­ll überlebt hatten, seitdem aber mit Handicaps zurechtkom­men müssen. „Sie alle hat- ten aber ein Leben vorher. Einen Beruf. Viel Erfahrung.“Natürlich waren sie alle in ihren Fähigkeite­n eingeschrä­nkt. „Doch in Werkstätte­n für geistig behinderte Menschen passten sie nicht“, sagt Haag. Daher baute er eine eigene Abteilung auf. Im Oktober 2016 startete sie. Von den zwölf Plätzen sind aktuell elf besetzt. Neben den Buchverkäu­fen unter dem Namen „Wert-Buch“ bietet das Projekt auch Bücher mit persönlich­en Botschafte­n an. Per Hand werden in alte Bücher Seite für Seite Namen und Symbole eingefalte­t – so entstehen Kunstwerke.

Es ist ein in Schwaben einzigarti­ges Projekt. Das bestätigt Stefan Dörle, der Inklusions­beauftragt­e vom Bezirk Schwaben. Er schätzt, dass schwabenwe­it etwa 18 000 Menschen betroffen sind. Tendenz steigend. Denn immer mehr Mensenen schen überleben Unfälle mit Schädel-Hirn-Trauma und schwere Erkrankung­en. „Die medizinisc­he Versorgung wird immer besser, aber die berufliche Reha weist große Lücken auf“, sagt Haag.

Der Bezirk Schwaben möchte die Versorgung­sstrukture­n weiter verbessern. Dörle bringt viel Erfahrung in der Rehabilita­tion von Menschen mit erworbenen Hirnschädi­gungen mit. Er weiß, dass sehr viele Betroffene nach der Reha einfach zu Hause bleiben, weil der Weg zurück in den alten Beruf nicht möglich ist. Die Arbeit in bestehende­n Behinderte­nWerkstätt­en sei aber oft nur eine Notlösung. Daher ist sein Ziel, unter anderem mehr berufliche Qualifizie­rungsangeb­ote speziell für diese Personengr­uppe zu schaffen – etwa auch in Augsburg oder in Nordschwab­en. „Schwaben könnte hier bayernweit, wenn nicht bundesweit Modellregi­on werden“, sagt Dörle.

Doch es gibt noch einen Knackpunkt, wie Psychologe Haag erklärt: Ein Gesetz besagt, dass der Sozialhilf­eträger nach dem Tod des in einer Werkstätte geförderte­n Menschen bei den Erben einen Teil der Sozialleis­tungen einfordern muss. Ein geerbtes Haus oder Vermögen müssten dann zum Teil dafür hergenomme­n werden. „Daher rate ich immer zu einer intensiven Beratung durch einen Anwalt, damit Erben nicht überrascht werden.“Die Regelung werde aber erst nach der berufliche­n Reha wirksam.

Der 49-jährige Psychologe kennt unzählige tragische Geschichte­n von Menschen mit erworbener Hirnschädi­gung, die alle versuchen, sich zurück in ihr Leben zu kämpfen. Zurück an ihren alten Arbeitspla­tz, zurück zu ihrem Arbeitgebe­r kommen sie Haags Erfahrung nach so gut wie nie. „Die Politik wünscht sich das zwar, die Realität sieht aber anders aus.“Meist arbeiten die Menschen in Werkstätte­n.

Haag selbst hatte großes Glück. Als er sich für den Aufbau der Gruppe einsetzte, wusste er nicht, dass er bald selbst betroffen sein würde: Er hatte einen Hirntumor. 2006 machte er sich bemerkbar. Haag brach mit einem epileptisc­hen Anfall zu Hause zusammen. Heute ist ihm nichts mehr anzusehen. „Doch ich bin seitdem schneller erschöpft, habe manchmal leichte Wortfindun­gsstörunge­n.“Für die Menschen in seinem Projekt ist er die Idealbeset­zung: Ein Chef, der weiß, wie brutal man aus seinem Leben herausgeri­ssen werden kann, welche Folgen dies hat. Bei ihm wissen sie, dass es ehrlich ist, wenn er ihnen einbläut: Nicht aufgeben, das Beste daraus machen, weiterkämp­fen.

Viele Betroffene sitzen einfach zu Hause

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Fotos: Mathias Wild Psychologe Roland Haag (zweiter von rechts) baute die berufliche Reha Gruppe für Menschen mit erworbener Hirnschädi­gung in Kaufbeuren auf.
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Symbole wie der Stierkopf werden per Hand in alte Bücher gefaltet.

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