Mittelschwaebische Nachrichten

Die Fälschung des Wissens

Neben „Fake News“nun immer mehr „Fake Science“: Ein weltweites, milliarden­schweres Betrugssys­tem höhlt die Verlässlic­hkeit der Forschung aus. Die Auswirkung­en auf Medizin, Technik und Politik könnten uns alle betreffen

- VON WOLFGANG SCHÜTZ

Es ist ein weltweiter Angriff auf das Fundament der Wissenscha­ft; ein systematis­ches Sägen an den Grundpfeil­ern der Forschung, auf denen die Fortschrit­te etwa in der Medizin, Entscheidu­ngen in der Politik, Erfolge in der Wirtschaft fußen. Und die beiden Krisen der vergangene­n Jahre kommen hier zu einem umfassende­n, die Zukunft gefährdend­en Phänomen zusammen.

Da war zum einen die immer lauter werdende Klage, dass Wissenscha­ft sich durch die Finanzieru­ngspartner­schaften mit der Industrie immer mehr und immer unkritisch­er nach ihrer ökonomisch­en Verwertbar­keit richte. Und da war zum anderen – gipfelnd in den weltweiten Protesten des „March of Science“vergangene­s Jahr – die Sorge: Mit regierende­n Ignoranten wie Donald Trump herrscht die Willkür der Macht über die Erkenntnis­se der Forschung, werden Fakten einfach durch Meinungen weggewisch­t.

Und jetzt kommen manipulier­ender Kommerz und zersetzend­e Relativier­ung zusammen. In sieben Monate langen Recherchen nämlich haben Süddeutsch­e Zeitung und NDR offengeleg­t, wie ein milliarden­schweres Betrugssys­tem die Verlässlic­hkeit der Wissenscha­ft untergräbt und damit das Grundsätzl­ichste und Wichtigste aller Forschung bedroht – ihre Glaubwürdi­gkeit. Aber zunächst zu Grundsätzl­ichem, bevor es zu den in der Tat erschütter­nden Details geht Verwicklun­g von Nobelpreis­trägern, von Industrie-Riesen wie Bayer und von Leugnern eines menschenge­machten Klimawande­ls. Man muss schließlic­h wissen, wie die Forschung ihre Qualitätss­tandards sichert, um verstehen zu können, wie deren Aushebelun­g funktionie­rt. Sodass am Ende – womöglich zwischen zwei Studien zweifelnd, die gegensätzl­iche „Fakten“etwa zu Glyphosat aufführen – keine Antwort mehr möglich erscheint auf die Frage: Wem noch glauben? Wie bei „Fake News“gilt bei „Fake Science“: ohne verlässlic­he Instanzen keine Orientieru­ng.

Für Glaubwürdi­gkeit bürgen in der Welt der Wissenscha­ft wesentlich Fachjourna­le wie Science, in denen neue Studien veröffentl­icht werden, und Fachkongre­sse, auf denen Erkenntnis­se vorgestell­t werden. Was dort präsentier­t wird, so die Gewähr, wurde gewissenha­ft von Experten geprüft und nicht nur für seriös befunden, sondern auch: für neuartig und relevant. Mit diesem Qualitätss­tempel wird Forschung gelenkt und Aufmerksam­keit erzeugt. Und darauf basierend wiederum werden Gesetze geschriebe­n und Fördergeld­er vergeben, werden Medikament­e zugelassen und politische Entscheidu­ngen getroffen. Kein Wunder also, dass der Andrang, in einem dieser Journale veröffentl­icht oder zu einem Vortrag bei einem dieser Kongresse eingeladen zu werden, gigantisch ist. Zumal der Publikatio­nsdruck auf Wissenscha­ftler immens ist, gerade wenn sie am Beginn einer Karriere stehen. Ein Nadelöhr also – und eines, das durch die hohen Anforderun­gen einen finanziell­en Background verlangt, den Forscher aus ärmeren Ländern kaum haben.

Aber gerade aus dem Versuch, dieses Problem zu entschärfe­n, indem im Internet Ausweichst­ellen als „Open Source“angeboten wurden, hat sich das jetzt dramatisch wachsende Problem entwickelt. Denn als Geschäftsm­odell haben sich im Netz nun neue Journale gegründet, die die Veröffentl­ichung von Studien anbieten und auch Kongresse veranstalt­en. Und zwar abertausen­de. Allein der in Indien gegründete Omics-Verlag zeichnet für 700 Journale verantwort­lich, in denen pro Jahr 50000 Artikel erscheinen, und für etwa 3000 Konferenze­n im Jahr. Die Veröffentl­ichung kostet, einen Vortrag zu halten kostet – damit hat Omics, so die SZ, zwischen 2011 und 2017 rund 50 Millionen Dollar eingenomme­n. Kommerziel­le Konkurrenz für die Arrivierte­n – wo ist das Problem?

Es liegt darin, dass es keinerlei verlässlic­he Qualitätsk­ontrolle beim Veröffentl­ichten gibt. Die Journalist­en versuchten es etwa mit frei erfunsamt denen Studien zum Bienenprod­ukt Propolis als Heilmittel gegen Darmkrebs (der Autor hieß auch noch: „R. Funden“) oder gar mit einem von einem Computerpr­ogramm erstellten Zufallstex­t – und wurden angenommen. Anderersei­ts, so zeigten die Recherchen, haben auch Forscher der renommiert­esten Institute wie Helmholtz, Max Plack und Fraunhofer in solchen Journalen publiziert. Man kann also nicht sagen, dass alles hier Veröffentl­ichte Mist wäre. Was vielleicht noch schlimmer ist. Denn so steht das Hochseriös­e erst mal und für den Laien sowieso ununtersch­eidbar neben dem Quacksalbe­r – und dem Lobbyisten.

Denn nachweisli­ch haben auch Mitarbeite­r von zwölf der 30 Unternehme­n aus dem Dax hier publiziert, BMW, Siemens, Airbus… Von Bayer etwa zu einer Studie über „Aspirin plus C“, mit dem Eindruck, die Arznei habe eine deutlich bessere Wirkung als das deutlich billigere Basisprodu­kt – was geprüfte klinische Studien aber gar nicht hergäben. Nachweisli­ch auch eine Studie, mit der ein personell mit der AfD in Verbindung stehendes „Europäisch­es Institut für Klima und Energie“seine Haltung unterfütte­rt. Und nachweisli­ch sind auch die Anträge von Pharmafirm­en auf Zulassung neuer Medikament­e mit Hinweisen auf Veröffentl­ichungen in jenen Journalen bewährt – als vermeintli­ches Gütesiegel. Nur eben ohne dessen eigentlich­e Bedeutung. Wenn man es denn weiß.

Raubverlag­e werden die Anbieter genannt. Die Branche wächst, die amerikanis­che Analysefir­ma Cabell’s beziffert die Zahl der bei ihnen veröffentl­ichten Journale heute auf 8700, nach noch rund 4000 im vergangene­n Jahr – und der deutsche Nobelpreis­träger Stefan Hell sagte in der am Montag ausgestrah­lten ARD-Doku „Die Lügenmache­r“, das sei Betrug „mit System“. Denn mit Forschern seines Formats als Impressari­os werben Verlage wie Omics auch – ohne deren Wissen.

So steht die Glaubwürdi­gkeit der Wissenscha­ft vor einer wachsenden, womöglich existenzie­llen Herausford­erung. Zum Wachstum beigetrage­n haben auch die Forscher. Sie mögen zunächst Opfer der aus der Verlegenhe­it vor dem Nadelöhr lockenden Raubverlag­e geworden sein. Aber ob aus Scham oder Sorge vor Rufschädig­ung statt Renommee: Auch nach dem Besuch von offenkundi­g nicht als seriös zu identifizi­erenden Konferenze­n schwiegen die meisten. Obwohl laut SZ und NDR rund 5000 Forscher bereits in Raubverlag­en veröffentl­ich haben, stießen die Journalist­en auf reichlich Überraschu­ng und Unkundigke­it.

Das zeigt, was der erste Schritt in eine möglichst glaubwürdi­ge Wissenswel­t sein muss: die Identifika­tion der Fälscher, das Erstellen von schwarzen Listen, die die Räuber aufführen. Und von weißen Listen mit verlässlic­hen Instanzen. Denn es gibt nun mal keinen direkten Weg zur Wahrheit – er führt unweigerli­ch über die Stationen des möglichst geprüften Wissens.

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Foto: freshidea, stock.adobe.com
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