Mittelschwaebische Nachrichten
Twitter kann auch lustig sein
Hasskommentare und Fake News haben der Plattform einen zweifelhaften Ruf beschert. Dabei hat sie viele positive Seiten. Und die würden letztlich überwiegen, meint eine Medienforscherin
Täglich füttern Nutzer den Kurznachrichtendienst Twitter mit ihrem Hass. Eine unüberschaubare Menge an Texten flutet die Plattform, auf der sich Hetzer oder Verschwörungstheoretiker sichtlich wohlfühlen. Was Twitter, aber auch Facebook einen zweifelhaften Ruf als Fake-News-Schleudern und Hasskommentar-Verbreiter beschert hat. Dabei kann Twitter ungemein unterhaltsam sein – besser als jede Comedy-Show im Fernsehen. Während seine negativen Seiten die öffentliche Debatte über das soziale Netzwerk häufig beherrschen, gibt es auch positive. Und während sich die einen mit Hasskommentaren zu überbieten versuchen, wetteifern andere um die witzigsten Beiträge.
Das zeigen viele Beispiele aus jüngster Vergangenheit. Etwa als Bundesinnenminister Horst Seehofer im Streit um die Flüchtlingspolitik seinen Rücktritt androht und plötzlich ein fast schon vergessenes Bild des CSU-Politikers auftaucht: Er sitzt an einem Holzschreibtisch, die Finger auf den Tasten eines Keyboards. Der Stecker des Instruments – ist gezogen.
Für die Twitter-Gemeinde ein gefundenes Fressen. Es hagelt Seitenhiebe. Der Unterschied bei #seehofersongs zu den höchst emotional geführten Diskussionen über ihn und seine Politik: Statt blankem Hass konzentrieren sich TwitterNutzer auf den unterhaltsamen Aspekt des Bildes und versehen es mit bekannten Liedzeilen. „Danke für meine Arbeitsstelle, danke für jedes kleine Glück. Danke für alles Frohe, Helle und für die Musik“, twittert etwa der User ShowkuenstlerDe. Schön doppeldeutig.
Für die Medienforscherin Lisa Merten vom Hans-Bredow-Institut an der Universität Hamburg nur eines von vielen Beispielen, in denen die Internetgemeinschaft kreativ, positiv und unterhaltsam auf etwas reagiert. Merten promoviert derzeit über das Nutzerverhalten in sozialen Medien. Sie nutzt Twitter seit 2007 aktiv und erinnert sich: „Am Anfang war Twitter ein harmonischer Ort, wo man spannende und neue Informationen gefunden hat.“Sie spricht von einer „Themenöffentlichkeit“: Gruppen hätten innerhalb der Plattform ein eigenes soziales Netzwerk aufgebaut, seien es Journalisten, Wissenschaftler oder Popstar-Fans. „Das Netzwerk wurde früh total intensiv und praktisch für das Positive genutzt.“
Das wurde anders. Auch wenn es negative Ausreißer schon immer gegeben habe. „Aber ich bin doch überrascht, dass sich die Debatte über soziale Medien seit der BrexitDiskussion und der Wahl Trumps verschärft hat“, stellt Merten fest. Aus ihrer eigenen Erfahrung heraus
sie sich dennoch optimistisch, was die Zukunft von Twitter angeht: „Die positive Seite wird immer überwiegen, sie ist einfach unterhaltender.“
In der Tat: Kaum ein Großereignis bleibt von Komik verschont. Auch während der Fußballwelt-
meisterschaft bot Twitter beste Unterhaltung. Der sich am Boden wälzende Brasilianer Neymar rollte alsbald nicht nur auf dem Rasen, sondern in bearbeiteten Videoclips über Autobahnen, Feldwege und durch Einkaufspassagen. Nach der WM geht es munter weiter: Nutzer dichzeigt
ten Spielernamen so um, dass diese einen Urlaubsbezug haben – Holger Freibadstuber, Tim Liegewiese oder Oliver Kahnufahrt sind Beispiele dafür.
Selbst die Kunsthistorie bleibt nicht außen vor. Das zeigt #KunstGeschichteAlsBrotbelag: Gemälde berühmter Künstler werden als Belag auf eine Scheibe Brot gezaubert, fotografiert und online gestellt. Beliebt sind auch andere Umdichtungen. Aktuell etwa unter dem Hashtag #gegenteiltiere. Gesucht und gefunden werden Tiere, die das „Gegenteil“von echten Tieren sein könnten. Aus dem Gepard wird der „Gepzdf“, aus dem Heilbutt der „Kaputtbutt“und aus der Mies- die „Nettmuschel“.
Zu den Twitter-Dauerbrennern zählen Witze über US-Präsident Donald Trump und Kim Jong Un. Während Trump selbst mit seinen meist aggressiven Tweets in Erscheinung tritt, wird seine Wortwahl vielfach imitiert und parodiert. Zurzeit erfreut sich das aufblasbare „Trump-Baby“– ein Luftballon –, das bei seinem Besuch in London über den Köpfen der Demonstranten schwebte, großer Beliebtheit. Mit unterhaltsamen Tweets zu unterschiedlichen Themen finanzieren sich Nutzer sogar ihren Lebensunterhalt. Christian Hanne etwa, der als „Betriebsfamilie“auf Twitter witzige Beiträge rund ums Thema Familie sammelt und auch ein Buch dazu veröffentlicht hat.
Seit Jahren in Deutschland beliebt: Twittern während in der ARD sonntags der „Tatort“läuft. Da wird dann jede Szene kommentiert – was oft unterhaltsamer ist als der Kultkrimi. Da fragt man sich durchaus: Hat Twitter, das laut Schätzungen von rund zwölf Millionen Menschen in Deutschland genutzt wird – trotz seiner negativen Seiten –, möglicherweise sogar die Kraft, die klassische TV-Unterhaltung zu verdrängen? Die Zahlen sprechen momentan dagegen. Zumindest wenn man auf das Nutzerverhalten für Nachrichten blickt und daraus Rückschlüsse zieht. Der Umfrage „Reuters Institute Digital News Survey“zufolge ist das Fernsehen mit 77 Prozent die am weitesten verbreitete Nachrichtenquelle in Deutschland. Ausschließlich auf Twitter greifen 4,3 Prozent zurück. Den Grund sieht Medienforscherin Merten in der Bedienung dieser Medien: „Twitter-Nutzer müssen aktiv ihre Infos suchen, Hashtags verfolgen und ihren Newsfeed gestalten. Das ist natürlich im linearen Fernsehen anders.“
Neben seiner unterhaltsamen Seite betont Merten noch eine Facette Twitters, die dessen Ruf als FakeNews-Schleuder und Hasskommentar-Verbreiter entgegenstehe: „Nutzer helfen Nutzern und bilden regelmäßig Solidargemeinschaften.“Sie erklärt das an diesem Beispiel: Eine Twitter-Nutzerin berichtete, dass ihr 800 Euro für ihre Kinder fehlen. Leser des Beitrages sammelten Spenden und schenkten der Frau 11000 Euro. Das seien Aspekte, die noch nicht in der breiten öffentlichen Wahrnehmung angekommen seien, sagt Merten.