Mittelschwaebische Nachrichten
Geblieben ist nur das Schloss
Die 52 Einwohner von Eberstall sind ein eingeschworener Haufen. Sie helfen sich gerne gegenseitig und gehen auch mal durchs Gartentürchen zum Nachbarn. Warum zwei Institutionen heute im Ort sehr fehlen
Eberstall Draußen hängt sie noch, die Speisekarte. In Schreibschrift sind neben Schnitzel und Cordon bleu auch Ente und Haxen feinsäuberlich untereinander notiert – die absoluten Renner hier im Eberstaller Hof über Jahrzehnte. Spezialitäten, für die die Gastwirtschaft weit über den kleinsten Ortsteil von Jettingen-Scheppach hinaus bekannt war. Für die war „die Gusti“berühmt. Unter diesem Namen kennt man Augustina Miller, Köchin und Pächterin bis Ende 2016. Da haben sie und ihr Mann Sepp nach fast 40 Jahren krankheitsbedingt einen Schlussstrich gezogen. Bis heute steht die Gaststätte leer, und Gusti Miller an diesem heißen Sommertag wehmütig davor. „Das waren Zeiten“, erinnert sie sich. „Die Wirtschaft geht mir schon ab.“Das findet auch MarieLuise Enders, die nicht nur Nachbarin war, sondern eine ganz spezielle Freundin wurde. Und die die Aussage noch verfeinert: „Den anderen geht die Wirtschaft ab, mir geht die Gusti ab.“
Jahrzehntelang war hier in der Ortsmitte viel los, vor allem in den Sommermonaten, wenn neben den schlichten Räumen mit den Holztischen und -stühlen auch die Terrasse geöffnet hatte. Bis zu 150 Gäste musste Gusti Miller bekochen und ihr Mann Sepp bedienen. „Da ist manchmal alles aus den Nähten geplatzt, aber dann bin ich zur Höchstform aufgelaufen“, erzählt die 67-Jährige. Dabei hatte sie das eigentlich gar nie so geplant. Aber weil ihr Gatte im Reitverein in Eberstall war und der dortige Rittmeister in den 70er Jahren jemanden für das Reiterstüble suchte, wurde kurzerhand die Gusti engagiert. Denn die war mit ihren Eltern im Unterknöringer Gasthaus Adler groß geworden und somit perfekt geeignet. Der Eberstaller Hof wuchs und machte sich dank Gusti einen Namen. „Alles, was sie gekocht hat, war einmalig“, lobt sie Marie-Luise Enders.
Jetzt ist alles anders, Miller selbst Witwe, das Gebäude am Verfallen, der Garten am Verwildern. Überraschend gibt die Eingangstür nach energischem Druck nach, ein von innen unter die Türklinke gelehnter Garderobenständer fällt mit einem Scheppern um. Zum ersten Mal betritt die einstige Hausherrin ihr langjähriges Reich. Es riecht modrig, aber auf der Theke stehen noch immer Gläser und türmen sich die letzten Bierdeckel und Speisekarten. 16 bis 20 Stunden stand sie fast täglich hinter dem vorsintflutlichen Ofen. Und eigentlich verging kein Tag, an dem sie nicht bei MarieLuise Enders in der Küche auftauchte. Die wohnt genau gegenüber und musste im Notfall mit Eiern oder Mehl aushelfen. Oder auch mal beim Abspülen einspringen. „Wir waren eine große Familie, wir haben Freud und Leid geteilt“, sagt Enders und fügt hinzu: „Das gibt’s selten, dass man so zusammenhält.“
Unter Eberstallern ist das aber nicht unüblich. 52 Frauen und Männer wohnen hier, im kleinsten Ortsteil von Jettingen-Scheppach. Besser hätte es niemand verteilen können, denn exakt die Hälfte ist weiblich, der andere Teil männlich. Und irgendwie scheinen alle hier seit Urzeiten zu leben und ein eingeschworener Haufen zu sein. Seit gewissermaßen Menschengedenken dürfen Auswärtige hier gar nicht bauen, Eberstaller ist man qua Geburt oder Heirat. Kein Wunder, dass die 52 Bewohner alle in irgendeiner Weise miteinander verbunden sind, sei es durch mehr oder weniger nahe Blutsbande oder über ein Gartentürchen, durch das der eine mal schnell zum anderen aufs Grundstück kommt. Bei diesem Trio, das jetzt bei Rosemarie Kaiser am Tisch Platz genommen hat, trifft das in vorbildlicher Weise zu. Da sitzen drei ältere Damen, die im Lauf der Zeit nicht nur enge Nachbarinnen geworden sind, sondern einst indi- am Verkuppeln der anderen beteiligt waren und zu Schwägerinnen wurden. Aber von vorne: Die Fäden laufen bei Marie-Luise Enders zusammen, einer waschechten Eberstallerin. Ganz im Gegensatz zu Rosemarie Kaiser, einer Urpreußin, die es vor 41 Jahren von Brandenburg nach Bayern verschlagen hat, die aber ihren Heimatdialekt nie abgelegt hat. Dass sie in einem MiniWeiler wie Eberstall landen und bis heute bleiben würde, hätte sich die 79-Jährige nie träumen lassen. „Ich hab’ früher gesagt, hier möchte ich nicht begraben sein.“Stattdessen lernte sie Anton kennen – übrigens mithilfe von Marie-Luise Enders’ Mutter – und heiratete einen Mann, der „mit Leib und Seele Eberstaller war“. Seine Schwester Theresia Schreiber wurde Kaisers Schwägerin.
Die heute 85-Jährige, einst in Eberstall geboren, wohnt als einzige des Trios nicht mehr hier. An diesem Nachmittag hat die Schwägerin sie aus Dinkelscherben abgeholt, jetzt sitzen sie in Kaisers Wohnzimmer und blättern in einem Stapel Geschichtsbücher und vergilbter Schwarz-Weiß-Fotos. Beim Blick in die Vergangenheit würden sie gerne ein bisschen das Rad der Geschichte zurückdrehen. „Mei, war des a scheane Zeit“, schwärmt Theresia Schreiber und erinnert sich an „Fangerles und Versteckerles“im Wirtschaftsgarten, dem Sammelpunkt der Jugend. Oder an das Annafest, das bis heute jedes Jahr im Juli gefeiert wird, aber nicht mehr an alte Zeiten herankommt. „Da kam ganz viel Besuch“, sagt Theresia Schreiber. „Mit Tanz unter den Linden“, ergänzt Marie-Luise Enders. „Hier war immer was los“, sagt Schreiber. Man denke nur an den Hoigarta, der einmal im Monat in Kaisers Gartenhütte stattfand. Oder an das Treiben, wenn der Maibaum aufgestellt wurde. 1992 bekam Eberstall die Ehrenurkunde der Stadt Burgau beim Maibaumwettbewerb, als kleinster teilnehmender Ort. „Was haben wir alles auf die Beine gestellt“, sagt Kaiser. Unter ihrem Mann Anton als Baustellenleiter bauten sich die Einheimischen 2006 eine gemeinsame Kläranlage.
Und nicht zu vergessen das Reitturnier. Das hat der heimische Reitrekt verein in den 70er Jahren ins Leben gerufen, Reiter aus ganz Deutschland kamen und blieben drei Tage lang. Da sei „Highlife“gewesen. Schreibers Tochter hat auch teilgenommen und mit sieben Jahren die erste Medaille gewonnen, sagt sie stolz. Reiten konnte die Tochter nur, weil sich Mama Schreiber beim Rittmeister im Schloss um den Haushalt gekümmert hat. Und heute? Gibt es keinen Reitverein mehr. Und auch keinen Eberstaller Hof mehr. Institutionen, die zu Eberstall gehörten und fehlen. Was bleibt? „Nix mehr“, sagt Theresia Schreiber leicht resigniert. „Die alten Weiber“, sagt ihre Schwägerin Rosemarie Kaiser trocken. „Die Zufriedenheit“, findet Enders.
Dafür thront das Schloss noch immer über allem. Nahezu unverwüstlich seit Hunderten von Jahren. 1602 wurde es durch das Geschlecht von Stain erbaut, zwischenzeitlich an den Freiherren Schenk von Stauffenberg verkauft, ging dann als Lehnschaft an die Könige von Bayern und schließlich wieder an Stauffenberg. In den 80er Jahren kaufte und renovierte ein Immobilienmakler das ziemlich heruntergekommene Gebäude. Seit 2005 gehört es der Familie Kober. Der Vorgänger habe ganze Arbeit geleistet, er selbst habe dem Haus nur einen „modernen Touch“verpasst, erzählt Stefan Kober, Aufsichtsratsvorsitzender bei Alko Kober SE. Einmal im Jahr, am Annafest, öffnet er seinen Schlossgarten und die Kapelle für die Allgemeinheit. Dazu sei er als Schlossherr verpflichtet. Dann singt der Kirchenchor, im Anschluss wird gegrillt. „Eine schöne Tradition“, findet er. Für Taufen – die letzte liege schon länger zurück – stellt er die Kapelle ebenfalls zur Verfügung. Vorausgesetzt, es handelt sich um hier geborene Eberstaller. Seinen jüngsten Sohn ließ er hier taufen.
Einen schöneren Wohnort kann er sich kaum vorstellen. Nur den Eberstaller Hof, wo er oft eingekehrt sei, vermisse er sehr. Als Erinnerung bleibt nur noch die Speisekarte. Draußen hängt sie noch.