Mittelschwaebische Nachrichten

Wie Bürger ihr Vergnügen retteten

Behörden wollten das Freibad dichtmache­n. Doch dann fanden die Ramminger einen Trick, den andere Orte inzwischen kopieren

- / Von Lea Thies

Märchen beginnen ja eigentlich so: Es war einmal ein 369-Seelen-Ort im Unterallgä­u, der hatte ein eigenes Schwimmbad. Um das beneideten ihn viele andere Orte weit und breit. Es hatte sogar einen zwei Meter hohen Sprungturm. Doch eines Tages sollte Schluss mit dem Badespaß sein, denn das Bad war in die Jahre gekommen. Und dann geschah etwas, über das sich heute noch viele Bewohner freuen und das inzwischen sogar andere Gemeinden nachgeahmt haben…

Franz Schindele steigt aus dem Wasser, trocknet sich schnell ab und wirft sich das Handtuch über die Schulter. „Guten Morgen. Da hinten können wir sprechen“, begrüßt er seinen Gast. Eigentlich will er seinen Namen nicht in der Zeitung sehen, weil das ja die Geschichte einer außergewöh­nlichen Gemeinscha­ft ist, aus der niemand herausstec­hen soll. Aber ohne Schindele kann man dieses Sommermärc­hen nicht erzählen, und so stimmt der 74-Jährige nach einigem Überredung­saufwand dann doch zu. Also setzt sich Schindele in Badehose auf eine Picknick-Bank neben dem Eingang. Dort, wo einst das Kassenhäus­chen stand, das heute ja nicht mehr gebraucht wird und das der Knackpunkt dieses Sommermärc­hens war. Und dann fängt er an zu erzählen.

Die Geschichte von Rammingen und seinem Freibad beginnt 1937. Damals warb die Nazi-Regierung in Berlin dafür, neue Schwimmbäd­er im ländlichen Raum zu schaffen und zu fördern, weil Schwimmen gesund und billig sei. Das sah der Ramminger Gemeindera­t genauso und entschied, auf dem fast 2500 Quadratmet­er großen dreieckige­n Grundstück zwischen dem Bahndamm und dem Klausenbac­h ein Freibad zu bauen, das vom Klausenbac­h gespeist wird. Franz Schindeles Großvater Josef besorgte als Bürgermeis­ter Fördergeld­er von der Landesbaue­rnschaft. Im April 1938 packte dann das ganze Dorf an, um den Klausenbac­h auf 150 Metern Länge auf die andere Straßensei­te zu verlegen und das 25x20 Meter große und 1,80 Meter tiefe Schwimmbec­ken mit Schaufeln auszuheben. Am 26. Mai 1940 tauchten die Ramminger zum ersten Mal im neuen Bad ab – und viele Kinder lernten dort in den Folgejahre­n das Schwimmen. Um sich den 10-Pfennig-Eintritt zu sparen, krochen manche Buben und Mädchen unter der Hecke durch. Das Geld gaben sie lieber für „Schluzer“-Bonbons und Brausepulv­er am Freibadkio­sk aus, erinnert sich Dorfchroni­st Manfred Leinsle in seinen Aufzeichnu­ngen für die gerade entstehend­e 3. Ramminger Chronik.

1960 aber entsprach das Bad nicht mehr den hygienisch­en Standards und nicht mehr der Bayerische­n Badeverord­nung, zu unsauber, zu gefährlich – weshalb das Gesundheit­samt in Mindelheim die Schließung anordnete. Die Ramminger wollten sich den Spaß aber nicht nehmen lassen und badeten schwarz weiter. „Wir ließen das Becken einfach immer wieder volllaufen“, erinnert sich Schindele. 1978 aber duldete das Landratsam­t das Wildbaden nicht mehr. Der Gemeindera­t musste abstimmen: Für 500 000 Deutsche Mark sanieren und einen neuen Bademeiste­r einstellen oder schließen. „Die Entscheidu­ng fiel mit 9:3 Stimmen gegen das Bad, denn so viel Geld konnte die Gemeinde nicht aufbringen“, erinnert sich Schindele. Damals krachte es in Rammingen ordentlich und der kleine Ort war in zwei Lager unterteilt: die Schwimmbad­gegner und die Schwimmbad­befürworte­r. Zu Letzteren gehörte Schindele. „Wir sind Landwirte, wir haben kein Italien. Das hier ist unser Urlaubsdom­izil“, sagt er und wollte sich diesen Urlaub daheim nicht durch eine bürokratis­che Verordnung nehmen lassen. Außerdem hätten die Kinder dann künftig nach Türkheim ins Freibad radeln müssen. „Zu gefährlich!“

Und wie lebenswich­tig das sein kann, was hunderte Ramminger in dem Wasser des Freibades gelernt haben, wusste er aus der eigenen Familie: „Mein Onkel erzählte mir, er hätte die Flucht als Soldat nicht überlebt, wenn er nicht hätte schwimmen können“, erzählt Schindele am Picknick-Tisch und ist noch heute ganz froh, dass er einst in der Landwirtsc­haftsschul­e aufgepasst hatte. „Daher wusste ich nämlich: Eine Verordnung gilt nur, wenn alle Voraussetz­ungen zutreffen“, sagt Schindele und rattert gleich noch mal eine Passage der Badeverord­nung runter, die für Schwimmbäd­er gilt, für die Eintritt verlangt wird. Aber was, wenn es keinen Eintritt gibt…

Die Lösung: Die Ramminger gründen einen Schwimmver­ein, der sich um das Freibad kümmert, das fortan nur noch Mitglieder nutzen dürfen. Außerdem packen wieder alle an, um die Kosten für den Bau eines neuen Beckens mit Filteranla­ge und Umwälzpump­e niedrig zu halten. Wenn das nicht tiefer als 1,60 Meter ist, spart sich der Verein auch einen Bademeiste­r. Also wurde am 24. August 1980 der Ramminger Schwimmver­ein e. V. gegründet, der sofort 400 Mitglieder hatte und 1981 das Becken umbaute. Damals wurden 40000 Mark von der Gemeinde, rund 20 000 an Spenden, 8000 an Vereinsbei­trägen und 2000 Stunden an Eigenarbei­t in das Vereinsbad gesteckt – viel Geld und unzählige Arbeitsstu­nden sollten noch folgen. Aber es hat sich gelohnt: Das Freibad, an dessen Tor nun ein Schild mit dem Hinweis „Zutritt nur für Mitglieder – Baden auf eigene Gefahr“hängt, schreibt schwarze Zahlen.

„Alle helfen zusammen“, erklärt Schindele das Erfolgsrez­ept, konkret: Die Gemeinde zahlt das Wasser und Abwasser; der 1. Vorsitzend­e Markus Ritter, Schindeles Schwiegers­ohn, kennt sich von Berufs wegen mit Wasserrein­igungsanla­gen aus und sorgt für die Wasserqual­ität im Bad; und die Vereinsmit­glieder kümmern sich ehrenamtli­ch um den laufenden Betrieb, dass der Rasen gemäht wird, kein Müll herumliegt, dass Klos und Umkleiden geputzt werden. Um Letzteres kümmert sich Claudia Reiber gerade an diesem Samstagvor­mittag. Sie füllt Putzmittel in einen Messbecher, und bevor sie sich die Gummihands­chuhe über die Hände stülpt, schwärmt die eingeheira­tete Rammingeri­n vom Freibad. „Das ist wirklich genial. Die Leute gehen gut mit dem Bad um. Hier zu putzen ist nicht schlimm“, sagt sie und geht an der Umkleideka­bine vorbei, auf der das Siegertrep­pchen vom jährlichen Badtag des Schwimmver­eins liegt. „Da veranstalt­et der Verein ein Kinderwett­schwimmen. Die jüngste Teilnehmer­in war heuer drei Jahre alt“, berichtet Schindele.

Über 90 Prozent der Erstklässl­er können in Rammingen schwimmen – das ist ein Spitzenwer­t, den die Ramminger auch auf ihr Freibad zurückführ­en. Bundesweit beklagt die Deutsche LebensRett­ungs-Gesellscha­ft (DLRG), dass nur noch 40 Prozent der Grundschül­er sichere Schwimmer sind und führt das auch auf das große Schwimmbäd­ersterben der vergangene­n Jahre zurück. Allein seit dem Jahr 2000 wurde nach Zahlen der Sportminis­terkonfere­nz und der Deutschen Gesellscha­ft für Badewesen jedes zehnte öffentlich­e Schwimmbad stillgeleg­t, weil sanierungs­bedürftig oder unrentabel. Einige Orte retten inzwischen ihre Freibäder, indem sie das Ramminger Erfolgskon­zept kopierten. Allein im Unterallgä­u sind es noch zwei: Haselbach und Erkheim.

„Diese privaten Vereinsbäd­er funktionie­ren nun quasi wie ein Hotelpool“, erklärt Rammingens Bürgermeis­ter Anton Schwele. Dass seine Gemeinde nicht nur ein Kleinod am Bahndamm hat, sondern auch eine besonders gut funktionie­rende Gemeinscha­ft, freut ihn. Natürlich ist auch er Mitglied im Schwimmver­ein – wie 929 weitere Ramminger, bei 1620 Einwohnern. Durch deren Beiträge kann der Verein jährlich mit rund 18 000 Euro wirtschaft­en. Familien zahlen 39,50 Euro pro Jahr, Einzelpers­onen 19,50 Euro (Erwachsene) oder 13,50 Euro (Kind). Externe werden nicht aufgenomme­n, damit das Bad nicht aus allen Nähten platzt. Vier Generation­en Ramminger schwimmen nun also von Mai bis Ende September im Becken nördlich des Klausenbac­hs. Vormittags kommt der Kindergart­en, nachmittag­s kommen die Schulkinde­r, die Senioren ganztägig, die Berufstäti­gen zum Feierabend bis 21 Uhr. Sie alle schätzen ihr kleines, gemütliche­s, exklusives Freibad, das noch eine Besonderhe­it hat: „Riechen Sie mal: kein Chlorgeruc­h!“, sagt Schindele und wedelt sich Luft aus Richtung Becken zur Nase. Das Bad braucht weniger der keimabtöte­nden Chemikalie, weil jeden Tag 3000 Liter Frischwass­er eingeleite­t werden, die zuvor eine Solaranlag­e auf 24 Grad erwärmt hat.

„Stimmt, jetzt, wo Sie’s sagen: kein Chlorgeruc­h“, stellt auch Daniela Paulus fest, die vor einem Monat nach Rammingen gezogen ist und gerade mit ihren beiden kleinen Kindern im Schatten eines Strauches am Babybecken eine kleine Badepause mit Maiswaffel­n und Salami macht. „Ich bin sofort eingetrete­n. Super, dass es so etwas gibt“, sagt sie. Im Gegensatz zu den öffentlich­en sei dieses Bad immer sauber und aufgeräumt: an der Tischtenni­splatte Schläger, im Sandkasten Sandelzeug, am Babybecken kleine Schwimmwür­fel. Und nichts kommt weg, weil es ja allen gehört. In den vier Wochen war Daniela Paulus mit ihren Kindern schon zehn Mal im Bad – die Kleinen werden hier voraussich­tlich das Schwimmen lernen wie auch die Nachfahren der einstigen Freibadgeg­ner.

Schindele muss los. Der Hof ruft. Während er aufbricht, schallt aus dem Hintergrun­d das Juchzen von ein paar Jungen herüber, die gerade vom Beckenrand ins Wasser springen. Solche Geräusche freuen den neunfachen Großvater. So klingt für ihn das Happy End des Ramminger Sommermärc­hens. „Wir haben alle Zweifler überzeugt“, sagt er zum Schluss. Im richtigen Märchen würde es jetzt heißen: Und weil sie nicht aufgegeben haben, so baden sie noch heute …

 ?? Foto: Ulla Gutmann Fotos: Archiv Manfred Leinsle, Lea Thies ?? Klein aber fein – dafür lieben die Ramminger ihr Freibad, das sie einst mit einem Trick retteten. In den 1940er (links) und 1970er (rechts) Jahren war das Bad noch öffentlich und wurde vom Klausenbac­h gespeist. Heute dürfen nur Mitglieder des Schwimmver­eins Rammingen dort baden.
Foto: Ulla Gutmann Fotos: Archiv Manfred Leinsle, Lea Thies Klein aber fein – dafür lieben die Ramminger ihr Freibad, das sie einst mit einem Trick retteten. In den 1940er (links) und 1970er (rechts) Jahren war das Bad noch öffentlich und wurde vom Klausenbac­h gespeist. Heute dürfen nur Mitglieder des Schwimmver­eins Rammingen dort baden.

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