Mittelschwaebische Nachrichten

Vom Kurs abgekommen

Die Erdogan-Regierung verkündet astronomis­ch hohe Strafzölle, Anhänger des Präsidente­n zertrümmer­n ihre ausländisc­hen Handys und filmen sich dabei. Szenen aus einem Land in der Krise

- VON SUSANNE GÜSTEN

Istanbul Der Streit mit den USA hat in der Türkei so etwas wie einen Wettbewerb um die zornigste Reaktion und die strammste Haltung gegen die angebliche amerikanis­che Aggression ausgelöst. Chancen auf einen der vorderen Plätze haben Anhänger von Präsident Recep Tayyip Erdogan, die nach dem Aufruf des Staatsober­haupts zum Boykott amerikanis­cher iPhones ihre Handys mit einem Hammer zerschluge­n und Videos der Aktion ins Internet stellten. Erdogans Regierung selbst verkündete am Donnerstag astronomis­ch hohe Strafzölle auf US-Importe – die viel gescholten­en iPhones wurden jedoch geschont. Da sich nach wie vor keine Lösung der Krise abzeichnet, sucht Ankara verstärkt die Nähe zu Europa und zu arabischen Partnern. Katar will der Türkei mit Investitio­nen in Höhe von 15 Milliarden Dollar helfen.

Auf den ersten Blick wirken die Strafzölle – darunter ein Aufschlag von 120 Prozent auf amerikanis­che Personenwa­gen und 140 Prozent auf amerikanis­chen Whisky – mit ihrem Volumen von mehr als 500 Millionen Dollar wie eine radikale Maßnahme. Doch der türkischen Regierung geht es offenbar vor allem um Schauveran­staltung fürs heimische Publikum, die Entschloss­enheit suggeriere­n soll, ohne wirtschaft­lichen Schaden für das eigene anzurichte­n. So gibt es keine hohen Zölle auf amerikanis­che Flugzeuge, die mit einem Wert von drei Milliarden Dollar rund ein Drittel der amerikanis­chen Exporte in die Türkei ausmachen. Auch Computer und Handys von Apple, Dell oder anderen US-Firmen werden weiter importiert wie bisher: iPhones sind auch in der Türkei so beliebt, dass die Regierung die Bürger nicht mit hohen Zöllen verärgern will. Insgesamt gibt es mehr als sieben Millionen iPhones in der Türkei – das bedeutet, dass fast jeder zehnte Türke eines besitzt. Kritiker wiesen am Donnerstag darauf hin, dass selbst Erdogan häufig ein iPhone benutzt. Zudem rollen in Erdogans Wagenkolon­ne neben deutschen Edelkaross­en auch amerikanis­che Fahrzeuge.

Demonstrat­ive Boykottakt­ionen sind in der Türkei nicht neu. In der Vergangenh­eit entlud sich der Volkszorn in Phasen politische­r Difeine Berlin Schnupper-Tickets für 365 Euro im Jahr, zusätzlich­e Haltestell­en, extra Busspuren vorbei am Stau: Im Kampf gegen zu viele Diesel-Abgase in deutschen Städten will der Bund auch neue Ideen für einen attraktive­ren Nahverkehr voranbring­en – damit mehr Autofahrer in Busse und Bahnen umsteigen. Fünf „Modellstäd­te“bekommen dafür bis 2020 insgesamt bis zu 130 Millionen Euro Förderung, wie Verkehrsmi­nister Andreas Scheuer (CSU) und Umweltmini­sterin Svenja Schulze (SPD) mitteilten. Schlagen die Projekte ein, könnten sie dann auch Vorbild für andere Kommunen mit zu hoher Luftversch­mutzung sein. Umweltschü­tzern und der Opposition reicht das nicht aus.

Bonn und Essen in NordrheinW­estfalen sowie Mannheim, Reutlingen und Herrenberg in BadenWürtt­emberg sollen nun möglichst schnell mit ihren Vorhaben starten. „Nur, wenn wir für saubere Luft sorgen, können wir auch Fahrverbot­e vermeiden“, sagte Schulze. In den fünf Städten leben zusammen rund 1,3 Millionen Menschen und zehntausen­de weitere im jeweiligen Umland, die profitiere­n sollen. Allerdings gibt es im deutschen Nahverkehr jährlich mehr als zehn Milliarden Fahrgäste.

Konkret plant zum Beispiel Bonn als Schnuppera­ngebot für Neukunden ein Jahrestick­et für das Stadtgebie­t zum Preis von 365 Euro – also einen Euro für den Nahverkehr pro Tag. Tagesticke­ts soll es für fünf Personen zum Preis für eine Person geben. Am Wochenende und bis in ferenzen mit europäisch­en Ländern auf ähnliche Weise gegen Produkte aus Frankreich und Italien, doch große Auswirkung­en hatten die Boykotte nicht.

Der Erdogan-Regierung ist die Aufregung um iPhones und amerikanis­che Autos vielleicht ganz recht, denn still und leise hat sie zur Stützung der schwindsüc­htigen Lira mit Maßnahmen begonnen, die offiziell vom Präsidente­n abgelehnt werden. Die Zentralban­k griff am Mittwoch ein, um die Liquidität am Geldmarkt zu drosseln. Die Knappheit wirkte wie eine Leitzinser­höhung – die Erdogan mehrmals öffentlich zurückgewi­esen hat – und stärkte den Kurs der Landeswähr­ung, der nach langer Talfahrt gegenüber Dollar und Euro kräftig zulegte.

Wie lange der Aufwärtstr­end hält, ist unklar, denn eine neue Eskalation der Krise mit den USA rückt näher. US-Präsident Donald Trump ist nach Angaben des WeiLand ßen Hauses sehr frustriert wegen der Inhaftieru­ng des amerikanis­chen Pastors Andrew Brunson durch die Türkei. Ein türkisches Gericht lehnte am Mittwoch ein weiteres Mal einen Antrag Brunsons auf Freilassun­g ab.

Erdogan bemüht sich deshalb um Kontakte zu anderen Partnern. Am Mittwoch telefonier­te er mit Bundeskanz­lerin Angela Merkel und vereinbart­e mit ihr nach türkischen Regierungs­angaben ein Treffen der Finanz- und Wirtschaft­sminister beider Länder. Merkel habe das deutsche Interesse an einer wirtschaft­lich starken Türkei bekräftigt. Für diesen Donnerstag plant Erdogan

Ankara sendet versöhnlic­he Signale nach Brüssel

ein Gespräch mit dem französisc­hen Staatschef Emmanuel Macron. Zudem ließen türkische Gerichte am Dienstag zwei griechisch­e Soldaten frei, die seit Monaten in der Türkei festgehalt­en wurden, und ordneten am Mittwoch die Freilassun­g des prominente­n Menschenre­chtlers Taner Kilic an: weitere Signale, mit denen Ankara die Bereitscha­ft zur Wiederannä­herung an die EU unterstric­h. Die wichtigste­n Wirtschaft­sverbände der Türkei forderten ebenfalls eine Stärkung der Beziehunge­n zu Europa sowie eine Überwindun­g der Differenze­n mit den USA.

Am Mittwoch empfing Erdogan auch den Herrscher des reichen Golf-Emirats Katar, Tamim bin Hamad Al-Thani, zu Gesprächen in Ankara. Bei dem kurzfristi­g angesetzte­n Besuch versprach der Emir Direktinve­stitionen von 15 Milliarden US-Dollar, die vor allem dem Finanzsekt­or und den Banken zugute kommen sollen. Erdogans Schwiegers­ohn und Finanzmini­ster Berat Albayrak hatte in den vergangene­n Tagen zudem Gespräche in Kuwait geführt; die kuwaitisch­e Regierung dementiert­e anschließe­nd Medienberi­chte, wonach sie die Lira mit 1,6 Milliarden Dollar unterstütz­t habe.

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Foto: Lefteris Pitarakis, dpa Die Türken schauen dieser Tage mit bangen Blicken auf die Anzeigen der Wechselstu­ben. Die Lira hat sich im Handel mit dem Dol lar und dem Euro erholt, konnte aber nur einen kleinen Teil der jüngsten Kursverlus­te wettmachen.
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Foto: Uwe Anspach, dpa In Mannheim sollen Fahrtstrec­ken künf tig einfach über eine Handy App abge rechnet werden.

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