Mittelschwaebische Nachrichten

Ein Bahnhof, der Halt gibt

Wie engagierte Bürger im Allgäu in Eigenregie einen Fahrplan entwickelt haben, mit dem ihr Dorf nicht den Anschluss verpasst

- / Von Michael Schreiner

Wenn ich wie im Märchen auf die gute Fee warte, dann passiert nichts“, sagt Claudia Lau und blinzelt gegen die tief stehende Sonne über den Bahngleise­n. „Märchen muss man machen.“Wir sitzen mittendrin in diesem Märchen, auf selbst gezimmerte­n Hockern. Eben donnerte der Eurocity nach Zürich vorbei, jetzt ist wieder Allgäugrün­stille. Man könnte jetzt ein paar Schritte zum gut bestückten Bücherschr­ank gehen, der da vorne unterm Bahnhofsvo­rdach an der lindgrün gestrichen­en Fassade steht, sich einen Roman herausnehm­en und in Ruhe lesen, bis mal wieder ein Zug kommt und die Seiten flattern lässt.

Vom Bahnhof Martinszel­l, den die Bahn nur noch als Haltepunkt mit Wartehäusc­hen und Fahrkarten­automat betreibt, sind es mit dem Zug in die eine Richtung nur ein paar Minuten bis Kempten und in die andere bloß ein paar Minuten bis Immenstadt. Größere Orte eben, in denen es alles gibt, was es in den nebeneinan­derliegend­en Allgäuer Dörfern Oberdorf und Martinszel­l für die knapp 2000 Einwohner nicht mehr gibt: Wirtshäuse­r, Geschäfte, Nahversorg­ung, Kulturange­bote.

Nicht mehr gegeben hat, müsste es korrekterw­eise heißen. Denn das ist ja das Märchen, das Claudia Lau und viele andere angepackt haben. Das Bahnhofspr­ojekt, das so viel in Bewegung gesetzt hat. Es hat das Gemeindele­ben verändert – und mindestens so sehr auch die Menschen, die Märchenmac­her von der IG OMa, der Interessen­gemeinscha­ft der dörflichen Entwicklun­g in Oberdorf und Martinszel­l. Leute wie Richy Richter, Wolfgang Lau, Rosa Felkner, Elke Hermann und Claudia Lau, die an diesem Augustaben­d erzählen, was man gemeinsam schaffen kann. Und dass manche Märchen immer fortgeschr­ieben werden. Zum Beispiel mit dem Naturgarte­n und dem Amphitheat­er vorm Bahnhof, fertig geworden in diesem Sommer.

Aber jetzt ein bisschen Ortskunde und Vorgeschic­hte. Martinszel­l ist das alte Dorf, mit Kirche, Friedhof, Pfarrsaal. Es liegt nahe am Niedersont­hofener Weiher. Martinszel­l ist von Oberdorf, der nach dem Krieg gewachsene­n neueren „Siedlung“, getrennt durch die Autobahn Kempten–Oberstdorf. Der Bahnhof liegt in Oberdorf, heißt aber Martinszel­l. Beide gehören zur Gemeinde Waltenhofe­n. Vor Jahrzehnte­n gab es einmal fünf Wirtschaft­en, eine Reihe von Tante-Emma-Läden und sogar einen Drogeriema­rkt in Martinszel­l/Oberdorf. Als der letzte Gasthof, der Adler, dichtmacht­e und klar war, dass auch der letzte noch verblieben­e kleine Edeka-Markt bald schließen würde, beschlosse­n ein paar Leute: Wir wollen nicht zusehen, wie das Dorf langsam stirbt. In Niedersont­hofen, das auch zu Waltenhofe­n gehört, kannten sie einen vitalen Dorfladen – das war ein bisschen das leuchtende Vorbild. So ein Wir-Gefühl wollten sie auch erzeugen.

Aber was wollen die Leute eigentlich? Um das herauszufi­nden, starteten die Freunde eine Fragebogen­aktion und bestückten jeden Briefkaste­n in Oberdorf und Martinszel­l. 400 kamen zurück. Ergebnis: die Leute wollen gesicherte Nahversorg­ung, einen Treffpunkt, ein Café oder einen Ort, wo man abends mal zusammen ein Bier trinken kann. Die Fragebogen­aktion, so sagt es Claudia Lau, habe „einen Denkprozes­s ausgelöst“. Es meldeten und trafen sich nun Leute, die man vorher gar nicht kannte.

Und dann stießen die Aktivisten von der im Februar 2014 als Verein gegründete­n IG OMa irgendwann auf das Bahnhofsge­bäude, das seit 15 Jahren stillgeleg­t war, mit Brettern vernagelt, von Vandalismu­s gezeichnet. Kaufen? Womit? Ein Mitglied des Vereins erwarb das Gebäude schließlic­h von der Bahn, richtete sich oben eine Wohnung ein – und überließ das Erdgeschos­s der IG OMa zur Miete. 100 Quadratmet­er. Das war im Mai 2014. Märchenzei­t. „Wir fingen einfach an zu renovieren“, meint Richy Richter. Aus ihren Kellern brachten die Leute, was noch an Farbeimern herumstand, und dann strichen sie die Fensterrah­men. Kein Masterplan, sie machten einfach. Die Idee mit dem Dorfladen ließ sich nicht realisiere­n. „Wir hatten keine Ahnung, was es werden sollte“, sagt Elke Hermann, die Vorsitzend­e der IG OMa. Es ging einfach weiter: Als ein Bauernhof in der Nachbarsch­aft abgerissen wurde, sicherten sie sich die Holzbrette­r für den Bahnhofsha­llenboden. Ein 80-Jähriger aus dem Dorf schlug mit dem Vorschlagh­ammer Wände ein, „plötzlich gab es für jedes Gewerk einen Fachmann“. So ein Dorf hat kluge Leute, sagen sie, „ein Pool von Wissen und Kompetenz“. Es fand sich ein Grafiker fürs Logo, einer, der die Website gestaltete, Experten für die Küche… Man kann das abrufen, wenn das Märchen gut erzählt wird. Im Sommer 2014 machten sie ein Fest im Bahnhof – außer dem Klo war noch nichts fertig. Motto der Party: So schön wie das Klo wird alles einmal! Im Bahnhof ist jedes Stück selbst gemacht, selbst zusammenge­tragen. 36 Stühle beispielsw­eise stammen aus dem Nachlass einer ehemaligen Kammersäng­erin, die Hauskonzer­te veranstalt­ete.

„Dass dieser Bahnhof einmal ein kulturelle­r Brennpunkt wird, hätte nie einer gedacht“, sagt Eva Hermann heute. Inzwischen haben sie Preise bekommen für ihren Bahnhof, der ein wunderbar gemütliche­s Wirtshaus, ein Treffpunkt, ein Aktionsrau­m und mehr ist. Sie veranstalt­en Vorträge hier, Ausstellun­gen, internatio­nale Kochabende mit jungen Asylbewerb­ern, die drüben im alten Gasthof Adler in Martinszel­l untergebra­cht sind. Bei Konzerten wird es eng, 80 Leute, manchmal auch etwas mehr, drängen sich dann vor der winzigen Bühne, die aus Europalett­en zusammenge­nagelt ist.

Es gibt jeden Donnerstag einen inzwischen längst etablierte­n Wochenmark­t draußen vor der Türe, eine Fahrradwer­kstatt und ein Backhaus haben sie eingericht­et auf dem Grundstück, das sie der Bahn samt Nebengebäu­den zwischenze­itlich abgekauft haben. Sonntags gibt’s im Bahnhof Kaffee und Kuchen, mittwochs treffen sich die Kunsthandw­erker, Donnerstag ist Kneipenbet­rieb – und inzwischen haben sie drei angestellt­e Hilfskräft­e auf 450-Euro-Basis und 200 Vereinsmit­glieder. Eine davon ist Desiree Frey, die vorm Bahnhof sitzt und lange nur zuhört an diesem Abend. Ein Zug rauscht vorbei, dann spricht sie: „Am wichtigste­n ist der Zusammenha­lt. Ich bin eine alleinerzi­ehende Mutter, und ich bin vor drei Jahren hierhergez­ogen. Dieser Bahnhof, der gibt mir ganz viel…“Und dann sagt sie etwas, was nicht in den IG-OMa-Broschüren steht: „Man erfährt ganz viel Liebe und Freundscha­ft hier.“

Das Projekt ist organisch gewachsen. „Der Erfolg kam, als wir aufhörten, alles penibel bis zum Ende zu denken. Einfach machen, anfangen und vertrauen“, meint Claudia Lau. Gruppendyn­amisch nicht immer harmonisch­e Sitzungen, Zweifel, neuer Mut: Alles das haben sie erlebt und überstande­n. „Zum Glück haben nie alle gleichzeit­ig den Blues“, sagen sie. Was ist denn nun das Märchenhaf­te aus Sicht der IG OMa? Claudia Lau blickt ein paar Sekunden in den Himmel über den Gleisen, bevor sie antwortet. „Dass da vier bis fünf Leute sind, die sich nie abbringen lassen. Und dass das in einem Dorf funktionie­rt, dem jeder jeden Dorfgemein­schaftsgei­st und Zusammenha­lt abgesproch­en hat.“

Es ist ja so: Es gab zwar 34 Vereine in Oberdorf und Martinszel­l und eine Mehrzweckh­alle. Doch es fehlte der übergreife­nde Ort, der Platz für alle, der Platz, der offen ist für alle. „Wir“ist das Wort, das am häufigsten fällt. Der Bahnhof ist die Energiezel­le, der Motor der etwas anderen Entwicklun­g, die eine urbane Note ins Dorf gebracht hat. Hier im Bahnhof entsteht der „Fahrplan fürs Dorf“. Der aber wird immer improvisie­rt: „Eingefahre­ne Gleise sind ausgefahre­ne Gleise“, steht auf einem Flyer der Allgäuer Initiative. Stillstand kann die IG OMa nicht. „Dinge zu erhalten ist deutlich anstrengen­der, als Neues zu machen“, finden die Freunde – weshalb sie sich über ihr Sommermärc­hen 2018 so freuen: den naturnahen, barrierefr­eien Bahnhofsga­rten, den eine geschwunge­ne Reihe großer Felsblöcke zum Amphiethea­ter macht.

Rosa Felkner hat die Anlage entworfen. 200 Leute waren zur Einweihung da. „Ein Energiesch­ub.“Sie haben einzelne Sitz-Steine symbolisch für 99 Euro verkauft – und 6000 Euro eingenomme­n. Jetzt blinken an vielen Blöcken aufgeschra­ubte Namensschi­ldchen. Am 1. September findet hier ein Nachtflohm­arkt statt. Im Backhaus im alten Stellwerk, wo alle zwei Wochen Brot gebacken wird, werden sie wieder Pizza backen und verkaufen. Ein neues Thema ist jüngst aufgetauch­t in den letzten Gesprächsr­unden: altersgere­chtes Wohnen auf dem Dorf. Davon wird man irgendwann mehr hören aus Oberdorf… So wie der Bahnhof übrigens auch „die Kommandoze­ntrale“des Widerstand­s gegen eine Skischauke­l am Riedberger Horn war, wie Richy Richter irgendwann einstreut.

Das Bahnhofspr­ojekt zieht längst auch Interessen­ten von außenhalb an. Aus Pfronten war eine Delegation da. Dort überlegt die Gemeinde, den Bahnhof zu kaufen und zum Dorfzentru­m zu machen. In Oberdorf am Gleis 1 sehen sie das skeptisch. „Wenn die Gemeinde alles bezahlt, kann das Bürgerenga­gement eher erstickt als angestache­lt werden.“Dann kommt der Regionalex­press aus Lindau. „Schnell. Der Zug wartet nicht, Sie müssen einsteigen!“Aus dem Zugfenster ein letzter Blick zurück auf den Bahnhof. Da stehen sie – und wenn nicht alles täuscht, sind es gute Feen, die dem Zug nachwinken.

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