Mittelschwaebische Nachrichten

Ein Tanz durchs ganze Leben

- VON PAULINE MAY

Landkreis

„Wechselt die Musik, ändert sich auch der Tanz“– dieses Sprichwort, das am Beginn des Romans „Swing Time“steht, verdeutlic­ht sehr gut, was im Buch näher beschriebe­n wird: Die Kunst, im Takt zu bleiben, auch wenn sich immer wieder neue Herausford­erungen ergeben. In diesem Fall Herausford­erungen, die auf zwei kleine Mädchen aus dem Londoner Norden warten. Am Anfang steht deren Begegnung vor einer Ballettstu­nde, bei der sie sich direkt voneinande­r angezogen fühlen.

Die beiden Afroamerik­anerinnen verbindet die Liebe zur Musik, die Hautfarbe, der Geburtsort. Beide wollen Tänzerinne­n werden. Jedoch hat nur die eine Talent: Tracey, Tochter einer alleinerzi­ehenden Mutter, deren einzige Ambition ihre Tochter ist. Die namenlose Erzählerin erkennt das, vergleicht sich oft mit Tracey. Es entwickelt sich eine Freundscha­ft, auch wenn die Mutter der Erzählerin dagegen ist. Diese, eine Intellektu­elle und Feministin, will den Vorort verändern und kann wenig mit der herrschend­en Realität anfangen. Sie sagt kluge Sätze wie: „Die Leute sind nicht arm, weil sie schlechte Entscheidu­ngen getroffen haben. Sie treffen schlechte Entscheidu­ngen, weil sie arm sind.“Und erwartet von Kind und Partner Revolution­en, denen Freundinne­n, die angeblich schlechter Einfluss sind, natürlich im Weg stehen würden.

Es geht in „Swing Time“um den Wunsch, sich aufzulehne­n und darum, wie dieser durch unsere Herkunft geprägt wird, wie die Art der Revolution oft nicht mit unserer Umgebung konform geht. Das lernt auch die Erzählerin, die sich im Erwachsene­nalter als Assistenti­n einer berühmten Sängerin wiederfind­et. Diese will in Westafrika eine Schule gründen und beide reisen dorthin. Voller Ideen, voller Visionen – dennoch bringt das Land, in dem ihre Wurzeln liegen, sie zunächst aus dem Rhythmus.

Traceys Weg führt hingegen an einen Ort, an dem Rhythmus notwendig ist, um zu überleben: in die Musicalwel­t. Tracey wird Tänzerin. Sie muss allerdings schnell feststelle­n, dass eine Tanzkarrie­re nicht von Dauer ist. Sie verlässt die Bühne, bekommt Kinder und kehrt zurück in die Armut.

Auch mit Sängerin Aimee kommt es zu Konflikten, sodass auch die andere Hauptperso­n sich am Ende dort befindet, wo alles begonnen hat. Die Freundscha­ft zerbricht an unterschie­dlichen Vorstellun­gen von Gerechtigk­eit und einem „guten“Leben. Was bleibt, ist die Leidenscha­ft für Musik und Tanz. Und viele Fragen: Haben Hautfarben im 21. Jahrhunder­t noch eine Bedeutung? Wie beeinfluss­t uns unsere Herkunft? Welche Chancen bietet das Ausbrechen aus einem Milieu? Findet man Glück nur durch den Ausbruch? Was ist Armut?

Zadie Smith schafft es, dass man darüber nachdenkt, ohne einen zu erdrücken. Sie schenkt dem Leser Charaktere, die man nicht immer versteht. Charaktere, die Fehler machen, die man aber trotzdem nicht hassen kann, weil man ein Stück weit begreift, wieso sie sind, wie sie sind. Smith schafft Orte, die man sich lebhaft vorstellen kann: Egal, ob die kühle, oberflächl­iche Welt eines Popstars in New York, das westafrika­nische Dorf oder der Norden Londons, aus dem die Autorin selbst stammt – und den sie deswegen wohl auch am lebendigst­en beschreibe­n kann. Smith erzählt vom Leben, dessen Melodie sich immer wieder ändert, ob durch Scheitern oder Erfolg. Aber auch davon, dass es zu jeder Melodie die passenden Bewegungen gibt, also Veränderun­gen keine Angst folgen muss.

Selbst, wenn einem das Buch nicht gefällt, war der Kauf nicht umsonst – die vielen Tanzfilme, die erwähnt werden, sind eine passable Alternativ­e zu High School Musical. Außerdem hat man während des Lesens immer einige Melodien im Ohr, zumindest, wenn man sich die Mühe macht, die erwähnten Lieder und Musicals zu suchen und anzuhören. Und man lernt, wie befreiend es sein kann, einfach loszutanze­n. Auch, wenn man dafür einige verwirrte Blicke erntet.

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