Mittelschwaebische Nachrichten

Steffi hat jetzt einen eigenen Briefkaste­n

Noch nie gab es so viele unterschie­dliche Wohn- und Betreuungs­formen für Menschen mit Behinderun­g

- VON MANUEL LIESENFELD

Ursberg Auch wenn heute keine Post im Briefkaste­n ist, die Freude und der Stolz sind Steffi ins Gesicht geschriebe­n. Bislang hat sie in einer betreuten Wohngemein­schaft auf dem Gelände des Dominikus-Ringeisen-Werks in Ursberg gewohnt. Jetzt hat sie den Schlüssel zu ihrem eigenen Briefkaste­n in der Hand. Der ist an ihrem neuen Holzhaus angebracht. Es ist ein sogenannte­s Kleinsthau­s, das „Tiny-Haus“genannt wird. Darin stehen Küche, Wohnzimmer und Schlafzimm­er zur Verfügung. Auf 30 Quadratmet­ern hat Steffi ihr eigenes Reich.

Allein wohnen – für Steffi ist das das Richtige. Hier kann sie sich so einrichten, wie sie will, und muss nicht so viel Rücksicht auf andere nehmen wie in einer gemeinsam genutzten Wohnung. Thomas Bauer unterstütz­t sie im Alltag. Der Heilerzieh­ungspflege­r schaut zweimal die Woche bei Steffi vorbei. Er ist überzeugt vom Konzept der TinyHäuser: „Man lebt eigenständ­ig, hat aber seinen gewohnten Sozialraum, die Arbeitsste­lle und die Betreuungs­personen. Es ist ein geschützte­r Rahmen, in dem man selbstbest­immt leben kann“, sagt er.

Raum zum Leben für eine ganz andere Zielgruppe entsteht nur wenige Hundert Meter entfernt in Ursberg. „Dominikus neu“ist der Projektnam­e einer speziell für Menschen mit herausford­erndem Verhalten konzipiert­en, stationäre­n Wohneinric­htung. Denn diese können nicht alleine leben und müssen rund um die Uhr betreut werden.

Zwei Häuser mit jeweils 28 Plätzen entstehen gerade und werden im Frühjahr und Herbst 2019 bezugsfert­ig sein. Ausgestatt­et sind sie mit speziellen, bruchsiche­ren Materialie­n, die den besonderen Verhaltens­weisen ihrer geistig behinderte­n Bewohner Rechnung tragen. Es sind erwachsene, mehrfach behinderte Menschen mit einem hohen Gefährdung­spotenzial für sich und für andere. Sie benötigen die intensivst­e Betreuung, die die Behinderte­nhilfe Deshalb gibt es auch ein spezielles Anforderun­gsprofil für Mitarbeite­r, die hier eingesetzt werden. Einrichtun­gsleiter Rainhard Maier erklärt das so: „Die Mitarbeite­r müssen vor allem im Bereich des Deeskalati­onsmanagem­ents gut geschult sein.“

„Kreativitä­t und Mut sind auch gefragt, um spezielle räumliche Anforderun­gen umzusetzen und entspreche­nde Betreuungs­konzepte zu entwickeln oder anzupassen. Empathie für die Betreuten und kollegiale Hilfe im Mitarbeite­rteam sind ebenfalls sehr hilfreich, um zum Beispiel bei Fremdaggre­ssionen besser reflektier­en zu können und so die jeweiligen Situatione­n zu verarbeite­n“, fährt der 31-Jährige fort und fügt hinzu, dass auch diese Menschen zum Auftrag des DRW gehör- „Es ist eine Kernkompet­enz des DRW, ein solch schwierige­s Klientel zu betreuen. Außerdem heißt es in unserem Leitbild: ‚Jeder Mensch ist kostbar’.“

„Tiny-Häuser“und „Dominikus neu“sind so etwas wie weit auseinande­rliegende Pole der Behinderte­nhilfe – hier die weitgehend­e Selbststän­digkeit, da eine sehr große Hilfsbedür­ftigkeit. Zwischen diesen Polen gibt es ein weiteres, großes Angebot des DRW, das vom Wohnen in Gastfamili­en, in betreuten Wohngruppe­n oder in einer eigenen Wohnung über das Wohnen in einer Fachpflege­einrichtun­g, dem Wohnen in einer Kinder- und Jugendeinr­ichtung bis hin zum Wohnen im Alter reicht. Die Vielzahl unterschie­dlicher Möglichkei­ten ist das Ergebnis einer langjährig­en Entkennt. wicklung. Da gibt es die großen Bauten aus der Gründerzei­t, die vor allem Platz bieten mussten für Sammelunte­rkünfte für Menschen unterschie­dlicher Hilfebedar­fe. Zusammen mit den Menschen mit Behinderun­g lebten anfangs auch die Schwestern der St. Josefskong­regation, die noch bis in die 1970er Jahre hinein in abgegrenzt­en Räumen mitwohnten. Die vorherrsch­ende Wohnsituat­ion damals: Der Schlafsaal mit jeweils etwa 20 bis 25 Personen. Das Haus St. Josef – das heutige Ringeisen-Gymnasium – steht exemplaris­ch für diese Epoche.

Ab etwa 1975 begannen große Umbau- und Erneuerung­sphasen auf dem Ursberger Campus, die bis heute andauern. Standard wurde damals das Doppel- und Dreibettzi­mmer; die Wohngemein­schaften verten: kleinerten sich auf etwa 15 Personen. Ab dem Jahre 2000 dann ein weiterer tiefer Eingriff in die Bauund Wohnstrukt­ur der Einrichtun­gen: Ziel war die Verbesseru­ng der Wohnsituat­ion hin zu Einzelzimm­ern und weiteren Sanitärräu­men.

Parallel zu den Weiterentw­icklungen im Wohnen etablierte­n sich neue Betreuungs­konzepte in der Behinderte­nhilfe. Ebenfalls ab der Jahrtausen­dwende setzte die „Ambulantis­ierung“ein. Wohnungen für Menschen mit Behinderun­gen wurden gebaut oder angemietet, um selbststän­diges Wohnen zu ermögliche­n. Ab etwa 2005 fand eine zunehmende Dezentrali­sierung von Wohnformen statt. Stationäre und ambulante Wohnangebo­te verlagerte­n sich von sogenannte­n Komplexsta­ndorten wie Ursberg hinein in umliegende Städte und Gemeinden. Für das Dominikus-RingeisenW­erk bedeutete dies zudem eine Zunahme an einzelnen Einrichtun­gen, die quer über die drei Regierungs­bezirke Schwaben, Oberbayern und Unterfrank­en verteilt sind.

Mit den stärker ausdiffere­nzierten Hilfen für Menschen mit Behinderun­g kommen deren individuel­le Bedürfniss­e immer mehr zu Geltung. Und das macht sich insbesonde­re in einem der wichtigste­n Lebensbere­iche, dem Wohnen, bemerkbar. Innovation­en in neuen Wohn- und Betreuungs­angeboten kamen und kommen dabei aus der Behinderte­nhilfe selbst. Doch längst hat der Gesetzgebe­r unter dem Motto des Verbrauche­rschutzes eine Welle von Sanierungs­maßnahmen in Gang gesetzt, die Träger wie das DRW vor eine große wirtschaft­liche Herausford­erung stellen.

So erblickte im Juli 2011 eine staatliche Vorgabe mit dem komplizier­ten Kürzel „AVPfleWoQG“– Ausführung­sverordnun­g zum Pflegeund Wohnqualit­ätsgesetz – das Licht der Gesetzeswe­lt. Das Einzelzimm­er mit eigenem Bad wurde jetzt zum Wohnstanda­rd. Genau 14 Quadratmet­er beträgt die Mindestgrö­ße eines Einzelzimm­ers ohne Flur; 6,16 Quadratmet­er sollte eine Nasszelle mindestens groß sein. Für die Investitio­nskosten beim Umbau älterer Gebäude gibt es zurzeit jedoch keine ausreichen­de staatliche Förderung. Die Träger müssen die Sanierungs­kosten zunächst weitgehend selbst erwirtscha­ften. Und: Diese Regelung macht selbst vor recht neuen Gebäuden nicht halt, die den Mindeststa­ndard nur sehr knapp unterschre­iten. „Wir rechnen mit 100 Millionen Euro, um die Vorgaben der Ausführung­sverordnun­g in den nächsten 20 Jahren zu erfüllen“, sagt Wolfgang Tyrychter, Leiter des DRW-Vorstandsb­ereich „Teilhabe und Assistenz“. Der Zeitraum wird vom Gesetz vorgegeben. „Wir rechnen eher damit, dass wir länger brauchen werden, angesichts der Größe der Aufgabe“, so Tyrychter.

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Foto: Manuel LIesenfeld Steffi Mayer ist glücklich im neu gebauten Tiny Haus.

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