Mittelschwaebische Nachrichten
Steffi hat jetzt einen eigenen Briefkasten
Noch nie gab es so viele unterschiedliche Wohn- und Betreuungsformen für Menschen mit Behinderung
Ursberg Auch wenn heute keine Post im Briefkasten ist, die Freude und der Stolz sind Steffi ins Gesicht geschrieben. Bislang hat sie in einer betreuten Wohngemeinschaft auf dem Gelände des Dominikus-Ringeisen-Werks in Ursberg gewohnt. Jetzt hat sie den Schlüssel zu ihrem eigenen Briefkasten in der Hand. Der ist an ihrem neuen Holzhaus angebracht. Es ist ein sogenanntes Kleinsthaus, das „Tiny-Haus“genannt wird. Darin stehen Küche, Wohnzimmer und Schlafzimmer zur Verfügung. Auf 30 Quadratmetern hat Steffi ihr eigenes Reich.
Allein wohnen – für Steffi ist das das Richtige. Hier kann sie sich so einrichten, wie sie will, und muss nicht so viel Rücksicht auf andere nehmen wie in einer gemeinsam genutzten Wohnung. Thomas Bauer unterstützt sie im Alltag. Der Heilerziehungspfleger schaut zweimal die Woche bei Steffi vorbei. Er ist überzeugt vom Konzept der TinyHäuser: „Man lebt eigenständig, hat aber seinen gewohnten Sozialraum, die Arbeitsstelle und die Betreuungspersonen. Es ist ein geschützter Rahmen, in dem man selbstbestimmt leben kann“, sagt er.
Raum zum Leben für eine ganz andere Zielgruppe entsteht nur wenige Hundert Meter entfernt in Ursberg. „Dominikus neu“ist der Projektname einer speziell für Menschen mit herausforderndem Verhalten konzipierten, stationären Wohneinrichtung. Denn diese können nicht alleine leben und müssen rund um die Uhr betreut werden.
Zwei Häuser mit jeweils 28 Plätzen entstehen gerade und werden im Frühjahr und Herbst 2019 bezugsfertig sein. Ausgestattet sind sie mit speziellen, bruchsicheren Materialien, die den besonderen Verhaltensweisen ihrer geistig behinderten Bewohner Rechnung tragen. Es sind erwachsene, mehrfach behinderte Menschen mit einem hohen Gefährdungspotenzial für sich und für andere. Sie benötigen die intensivste Betreuung, die die Behindertenhilfe Deshalb gibt es auch ein spezielles Anforderungsprofil für Mitarbeiter, die hier eingesetzt werden. Einrichtungsleiter Rainhard Maier erklärt das so: „Die Mitarbeiter müssen vor allem im Bereich des Deeskalationsmanagements gut geschult sein.“
„Kreativität und Mut sind auch gefragt, um spezielle räumliche Anforderungen umzusetzen und entsprechende Betreuungskonzepte zu entwickeln oder anzupassen. Empathie für die Betreuten und kollegiale Hilfe im Mitarbeiterteam sind ebenfalls sehr hilfreich, um zum Beispiel bei Fremdaggressionen besser reflektieren zu können und so die jeweiligen Situationen zu verarbeiten“, fährt der 31-Jährige fort und fügt hinzu, dass auch diese Menschen zum Auftrag des DRW gehör- „Es ist eine Kernkompetenz des DRW, ein solch schwieriges Klientel zu betreuen. Außerdem heißt es in unserem Leitbild: ‚Jeder Mensch ist kostbar’.“
„Tiny-Häuser“und „Dominikus neu“sind so etwas wie weit auseinanderliegende Pole der Behindertenhilfe – hier die weitgehende Selbstständigkeit, da eine sehr große Hilfsbedürftigkeit. Zwischen diesen Polen gibt es ein weiteres, großes Angebot des DRW, das vom Wohnen in Gastfamilien, in betreuten Wohngruppen oder in einer eigenen Wohnung über das Wohnen in einer Fachpflegeeinrichtung, dem Wohnen in einer Kinder- und Jugendeinrichtung bis hin zum Wohnen im Alter reicht. Die Vielzahl unterschiedlicher Möglichkeiten ist das Ergebnis einer langjährigen Entkennt. wicklung. Da gibt es die großen Bauten aus der Gründerzeit, die vor allem Platz bieten mussten für Sammelunterkünfte für Menschen unterschiedlicher Hilfebedarfe. Zusammen mit den Menschen mit Behinderung lebten anfangs auch die Schwestern der St. Josefskongregation, die noch bis in die 1970er Jahre hinein in abgegrenzten Räumen mitwohnten. Die vorherrschende Wohnsituation damals: Der Schlafsaal mit jeweils etwa 20 bis 25 Personen. Das Haus St. Josef – das heutige Ringeisen-Gymnasium – steht exemplarisch für diese Epoche.
Ab etwa 1975 begannen große Umbau- und Erneuerungsphasen auf dem Ursberger Campus, die bis heute andauern. Standard wurde damals das Doppel- und Dreibettzimmer; die Wohngemeinschaften verten: kleinerten sich auf etwa 15 Personen. Ab dem Jahre 2000 dann ein weiterer tiefer Eingriff in die Bauund Wohnstruktur der Einrichtungen: Ziel war die Verbesserung der Wohnsituation hin zu Einzelzimmern und weiteren Sanitärräumen.
Parallel zu den Weiterentwicklungen im Wohnen etablierten sich neue Betreuungskonzepte in der Behindertenhilfe. Ebenfalls ab der Jahrtausendwende setzte die „Ambulantisierung“ein. Wohnungen für Menschen mit Behinderungen wurden gebaut oder angemietet, um selbstständiges Wohnen zu ermöglichen. Ab etwa 2005 fand eine zunehmende Dezentralisierung von Wohnformen statt. Stationäre und ambulante Wohnangebote verlagerten sich von sogenannten Komplexstandorten wie Ursberg hinein in umliegende Städte und Gemeinden. Für das Dominikus-RingeisenWerk bedeutete dies zudem eine Zunahme an einzelnen Einrichtungen, die quer über die drei Regierungsbezirke Schwaben, Oberbayern und Unterfranken verteilt sind.
Mit den stärker ausdifferenzierten Hilfen für Menschen mit Behinderung kommen deren individuelle Bedürfnisse immer mehr zu Geltung. Und das macht sich insbesondere in einem der wichtigsten Lebensbereiche, dem Wohnen, bemerkbar. Innovationen in neuen Wohn- und Betreuungsangeboten kamen und kommen dabei aus der Behindertenhilfe selbst. Doch längst hat der Gesetzgeber unter dem Motto des Verbraucherschutzes eine Welle von Sanierungsmaßnahmen in Gang gesetzt, die Träger wie das DRW vor eine große wirtschaftliche Herausforderung stellen.
So erblickte im Juli 2011 eine staatliche Vorgabe mit dem komplizierten Kürzel „AVPfleWoQG“– Ausführungsverordnung zum Pflegeund Wohnqualitätsgesetz – das Licht der Gesetzeswelt. Das Einzelzimmer mit eigenem Bad wurde jetzt zum Wohnstandard. Genau 14 Quadratmeter beträgt die Mindestgröße eines Einzelzimmers ohne Flur; 6,16 Quadratmeter sollte eine Nasszelle mindestens groß sein. Für die Investitionskosten beim Umbau älterer Gebäude gibt es zurzeit jedoch keine ausreichende staatliche Förderung. Die Träger müssen die Sanierungskosten zunächst weitgehend selbst erwirtschaften. Und: Diese Regelung macht selbst vor recht neuen Gebäuden nicht halt, die den Mindeststandard nur sehr knapp unterschreiten. „Wir rechnen mit 100 Millionen Euro, um die Vorgaben der Ausführungsverordnung in den nächsten 20 Jahren zu erfüllen“, sagt Wolfgang Tyrychter, Leiter des DRW-Vorstandsbereich „Teilhabe und Assistenz“. Der Zeitraum wird vom Gesetz vorgegeben. „Wir rechnen eher damit, dass wir länger brauchen werden, angesichts der Größe der Aufgabe“, so Tyrychter.