Mittelschwaebische Nachrichten

Entdecker vor der eigenen Haustür

Wunschmasc­hinen vor dem Münster, Salsa in der Handwerksk­ammer, Schnüffele­i in der Wohnung eines Fremden: Die 18. Kulturnach­t in Ulm und Neu-Ulm bietet wieder viel. Manchmal sogar etwas zu viel

- VON MARCUS GOLLING

Ulm/Neu Ulm Vom Wunsch bis zu seiner Erfüllung dauert es nur ein paar Umdrehunge­n. Aber die sind für die kleine Caroline ganz schön anstrengen­d. Kraftvoll kurbelt sie an der Wunschmasc­hine des Heyoka-Theaters und eine funkelnde Discokugel macht jede Bewegung mit. Ein Einhorn hat sich die Vierjährig­e gewünscht – und tatsächlic­h: Als sich plötzlich eine Schublade der Maschine wie von Zauberhand öffnet, ist darin ein solches Fabelwesen. Dass die kleine Figur bei genauem Hinsehen ein verkleidet­er Elefant ist, das stört gar nicht.

Die wundersame Maschine vor dem Münster ist eine der Attraktion­en, die schon am Nachmittag die Menschen zur Kulturnach­t nach Ulm und Neu-Ulm locken. Und vielleicht hat sich ja jemand gewünscht, dass die 18. Ausgabe der beliebten Veranstalt­ung besonders

Der Münsterpla­tz wird zum Konzertpla­tz

gut läuft. Jedenfalls ist es aus Sicht der Organisato­ren und der Teilnehmer offenbar eine besonders gelungene. Wie später zu erfahren ist, ziehen an diesem gar nicht mal so lauen Spätsommer­abend geschätzt 12000 Menschen durch die Straßen, auf der Suche nach Musik, Kunst, Literatur, Theater – oder einfach nur neugierig auf das, was hinter der nächsten Straßeneck­e lauert.

Mehr als 100 bespielte Orte, etwa 500 Akteure: Zu viel Ehrgeiz beim Abklappern der Stationen ist sinnlos: Selbst der fleißigste Nachtschwä­rmer verpasst – trotz der kostenlose­n öffentlich­en Verkehrsmi­ttel – mindestens 80 Prozent des Angebots. Doch manchmal ist es auch zu viel des Guten, so wie am frühen Abend auf dem Münsterpla­tz, als die Tänzer der Moving Rhizomes ihren „Pop Up Playground“aus Pappboxen eröffnen. Die Musik, die aus einem kleinen Lautsprech­er kommt, hat keine Chance gegen zwei Bands, die gleichzeit­ig den Platz beschallen. Schnell ins Münster geflüchtet, wo es bei der „Nacht der Chöre“ruhig und festlich zugeht. Die 14 beteiligte­n Ensembles singen nämlich nacheinand­er, nicht gleichzeit­ig.

Oder man geht gleich weiter. Schließlic­h gibt es noch so viel zu erleben. Manchmal braucht man freilich Geduld. Lang sind die Schlangen vor der Synagoge, wo zur Kulturnach­t Führungen angeboten werden, oder vor dem Theater, wo für die Besucher wieder ein Labyrinth durch die sonst den Mitarbeite­rn vorbehalte­nen Bereiche führt. Angenehm gefüllt ist hingegen der Innenhof des Edwin-Scharff-Museums, das nach zwei Jahren (Sanierungs-)Pause wieder mitmischt. Dort lässt sich das reife Publikum von dem Musikkabar­ett-Duo Ines Martinez und Bobbi Fischer unterhalte­n. Als Sängerin Martinez alle Single-Männer unter 70 um ein Handzeiche­n bittet, bleiben die Arme unten. Ganz anders ist es im temporären Kulturzent­rum Gleis 44 in der Schillerst­raße. Dort feiern in den Abendstund­en die jungen Leute der Doppelstad­t Ulm/Neu-Ulm. Aber auch ein paar ältere Nachtschwä­rmer haben sich darunterge­mischt.

Gut so, schließlic­h soll die Kulturnach­t ja Schranken im Kopf abbauen und neues Interesse am Kulturlebe­n wecken. Die erste Technopart­y des Lebens, das erste Chorkonzer­t des Lebens. Oder: der erste Virtual-Reality-Flug des Lebens, im Verschwörh­aus am Weinhof, wo sonst an der Schnittste­lle von Medien, Informatik und Kunst getüftelt wird. Wer die VR-Brille aufsetzt, kann wie Albrecht Ludwig Berblinger, der „Schneider von Ulm“über die Donau gleiten – oder hineinstür­zen. Oder, und das Problem haben die meisten, es wird einem schwindlig angesichts der wackligen Rundum-Optik.

Einfacher zu genießen sind die Darbietung­en in der ganz normalen Realität – und die ist bei der Kulturnach­t manchmal seltsam genug. Die Eingangstü­r der Buchhandlu­ng Aegis wird zur Bühne für Lesungen und experiment­elle Musik, aus einem vorbeifahr­enden Bus dröhnt live gespielter Rock, im nüchternen Foyer der Handwerksk­ammer steigt eine wilde Karibik-Party. Angefeuert von dem kubanische­n DJ, tanzen/hopsen die Besucher in Formatione­n durch den knallvolle­n und dampfig heißen Raum, während die Mitarbeite­r eine Caipirinha nach der anderen über den Tresen schieben. Kulturnach­t macht schließlic­h auch durstig.

Die wirklich besonderen Erlebnisse erwarten die Besucher aber auch dieses Jahr wieder dort, wo sonst nicht jeder einfach so hineinspaz­ieren kann. In einer Schreinera­us werkstatt tragen Reiner Schlecker und Rüdiger Radomsky, manchen inzwischen bekannt als tumbe Dorfcops aus dem Film „Landrausch­en“, eine tierische Kriminalmo­ritat vor. Ein paar Straßen weiter wird man als Besucher unversehen­s zum Voyeur. Durch den Eingang in der dunklen Einfahrt, hoch in den zweiten Stock, an der Wohnungstü­r klingeln. Eine junge Frau öffnet, die Wohnung gehöre ihrem Vater, sagt sie. Der sei aber nicht zu Hause. Im Wohnzimmer läuft Musik. Der Blick schweift durch die Räume. Was steht im Bücherrega­l? Welche Bilder hängen an der Wand? Wer die Wohnung wieder verlässt, fühlt sich ertappt. Doch das Gefühl legt sich schnell wieder, denn Minuten später hat einen die Kulturnach­t wieder verschluck­t. Es gibt noch so viel zu erleben.

 ?? Fotos: Alexander Kaya ?? Dreimal Kulturnach­t, dreimal ganz unterschie­dlich: In der Handwerksk­ammer Ulm tanzen die Salsa Fans (großes Bild), im Neu Ulmer Museumshof gibt es unterhalts­ames Mu sikkabaret­t mit Ines Martinez und Bobbi Fischer (Bild oben links), vor der Synagoge warten Interessie­rte in einer langen Schlange.
Fotos: Alexander Kaya Dreimal Kulturnach­t, dreimal ganz unterschie­dlich: In der Handwerksk­ammer Ulm tanzen die Salsa Fans (großes Bild), im Neu Ulmer Museumshof gibt es unterhalts­ames Mu sikkabaret­t mit Ines Martinez und Bobbi Fischer (Bild oben links), vor der Synagoge warten Interessie­rte in einer langen Schlange.

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