Mittelschwaebische Nachrichten
Entdecker vor der eigenen Haustür
Wunschmaschinen vor dem Münster, Salsa in der Handwerkskammer, Schnüffelei in der Wohnung eines Fremden: Die 18. Kulturnacht in Ulm und Neu-Ulm bietet wieder viel. Manchmal sogar etwas zu viel
Ulm/Neu Ulm Vom Wunsch bis zu seiner Erfüllung dauert es nur ein paar Umdrehungen. Aber die sind für die kleine Caroline ganz schön anstrengend. Kraftvoll kurbelt sie an der Wunschmaschine des Heyoka-Theaters und eine funkelnde Discokugel macht jede Bewegung mit. Ein Einhorn hat sich die Vierjährige gewünscht – und tatsächlich: Als sich plötzlich eine Schublade der Maschine wie von Zauberhand öffnet, ist darin ein solches Fabelwesen. Dass die kleine Figur bei genauem Hinsehen ein verkleideter Elefant ist, das stört gar nicht.
Die wundersame Maschine vor dem Münster ist eine der Attraktionen, die schon am Nachmittag die Menschen zur Kulturnacht nach Ulm und Neu-Ulm locken. Und vielleicht hat sich ja jemand gewünscht, dass die 18. Ausgabe der beliebten Veranstaltung besonders
Der Münsterplatz wird zum Konzertplatz
gut läuft. Jedenfalls ist es aus Sicht der Organisatoren und der Teilnehmer offenbar eine besonders gelungene. Wie später zu erfahren ist, ziehen an diesem gar nicht mal so lauen Spätsommerabend geschätzt 12000 Menschen durch die Straßen, auf der Suche nach Musik, Kunst, Literatur, Theater – oder einfach nur neugierig auf das, was hinter der nächsten Straßenecke lauert.
Mehr als 100 bespielte Orte, etwa 500 Akteure: Zu viel Ehrgeiz beim Abklappern der Stationen ist sinnlos: Selbst der fleißigste Nachtschwärmer verpasst – trotz der kostenlosen öffentlichen Verkehrsmittel – mindestens 80 Prozent des Angebots. Doch manchmal ist es auch zu viel des Guten, so wie am frühen Abend auf dem Münsterplatz, als die Tänzer der Moving Rhizomes ihren „Pop Up Playground“aus Pappboxen eröffnen. Die Musik, die aus einem kleinen Lautsprecher kommt, hat keine Chance gegen zwei Bands, die gleichzeitig den Platz beschallen. Schnell ins Münster geflüchtet, wo es bei der „Nacht der Chöre“ruhig und festlich zugeht. Die 14 beteiligten Ensembles singen nämlich nacheinander, nicht gleichzeitig.
Oder man geht gleich weiter. Schließlich gibt es noch so viel zu erleben. Manchmal braucht man freilich Geduld. Lang sind die Schlangen vor der Synagoge, wo zur Kulturnacht Führungen angeboten werden, oder vor dem Theater, wo für die Besucher wieder ein Labyrinth durch die sonst den Mitarbeitern vorbehaltenen Bereiche führt. Angenehm gefüllt ist hingegen der Innenhof des Edwin-Scharff-Museums, das nach zwei Jahren (Sanierungs-)Pause wieder mitmischt. Dort lässt sich das reife Publikum von dem Musikkabarett-Duo Ines Martinez und Bobbi Fischer unterhalten. Als Sängerin Martinez alle Single-Männer unter 70 um ein Handzeichen bittet, bleiben die Arme unten. Ganz anders ist es im temporären Kulturzentrum Gleis 44 in der Schillerstraße. Dort feiern in den Abendstunden die jungen Leute der Doppelstadt Ulm/Neu-Ulm. Aber auch ein paar ältere Nachtschwärmer haben sich daruntergemischt.
Gut so, schließlich soll die Kulturnacht ja Schranken im Kopf abbauen und neues Interesse am Kulturleben wecken. Die erste Technoparty des Lebens, das erste Chorkonzert des Lebens. Oder: der erste Virtual-Reality-Flug des Lebens, im Verschwörhaus am Weinhof, wo sonst an der Schnittstelle von Medien, Informatik und Kunst getüftelt wird. Wer die VR-Brille aufsetzt, kann wie Albrecht Ludwig Berblinger, der „Schneider von Ulm“über die Donau gleiten – oder hineinstürzen. Oder, und das Problem haben die meisten, es wird einem schwindlig angesichts der wackligen Rundum-Optik.
Einfacher zu genießen sind die Darbietungen in der ganz normalen Realität – und die ist bei der Kulturnacht manchmal seltsam genug. Die Eingangstür der Buchhandlung Aegis wird zur Bühne für Lesungen und experimentelle Musik, aus einem vorbeifahrenden Bus dröhnt live gespielter Rock, im nüchternen Foyer der Handwerkskammer steigt eine wilde Karibik-Party. Angefeuert von dem kubanischen DJ, tanzen/hopsen die Besucher in Formationen durch den knallvollen und dampfig heißen Raum, während die Mitarbeiter eine Caipirinha nach der anderen über den Tresen schieben. Kulturnacht macht schließlich auch durstig.
Die wirklich besonderen Erlebnisse erwarten die Besucher aber auch dieses Jahr wieder dort, wo sonst nicht jeder einfach so hineinspazieren kann. In einer Schreineraus werkstatt tragen Reiner Schlecker und Rüdiger Radomsky, manchen inzwischen bekannt als tumbe Dorfcops aus dem Film „Landrauschen“, eine tierische Kriminalmoritat vor. Ein paar Straßen weiter wird man als Besucher unversehens zum Voyeur. Durch den Eingang in der dunklen Einfahrt, hoch in den zweiten Stock, an der Wohnungstür klingeln. Eine junge Frau öffnet, die Wohnung gehöre ihrem Vater, sagt sie. Der sei aber nicht zu Hause. Im Wohnzimmer läuft Musik. Der Blick schweift durch die Räume. Was steht im Bücherregal? Welche Bilder hängen an der Wand? Wer die Wohnung wieder verlässt, fühlt sich ertappt. Doch das Gefühl legt sich schnell wieder, denn Minuten später hat einen die Kulturnacht wieder verschluckt. Es gibt noch so viel zu erleben.