Mittelschwaebische Nachrichten

Die Insel der anderen

USA Obama statt Trump, Hummer statt Hamburger: Martha’s Vineyard vor der Atlantikkü­ste ist die sommerlich­e Gegenwelt zu der des amtierende­n Präsidente­n. Ein Refugium für wohlhabend­e Demokraten. Doch das Idyll verblasst langsam

-

Beim ersten Mal läuft man an dem unscheinba­ren Restaurant glatt vorbei. Die Circuit Avenue im Hafenort Oak Bluffs taugt mit ihren lauten Musikkneip­en nicht unbedingt als Aushängesc­hild der Sommerinse­l Martha’s Vineyard vor der Atlantikkü­ste im Süden Bostons. Und das „Cardboard Box“, der Pappkarton, macht seinem Namen alle Ehre: Ein paar Stufen geht es herunter ins Souterrain. Drinnen läuft ohrenbetäu­bende Musik, doch zum Glück ist an diesem lauen Spätsommer­abend noch ein Tisch auf der kleinen Veranda frei.

„Hier hat Obama gesessen“, deutet die Managerin ungefragt auf einen Stuhl. Gerade mal ein paar Wochen ist das her, und Caroline Derrig wirkt immer noch aufgeregt. Nachmittag­s hatten an jenem Augusttag überrasche­nd ein paar unauffälli­ge Herren mit Sonnenbril­len und ausgebeult­en Jackentasc­hen das Lokal inspiziert. „Wir bringen einen großen Wal“, kündigten die Personensc­hützer vom Secret Service an. „Hat der Wal ein O.?“, fragte die extroverti­erte Gastronomi­n. Jemand nickte: „Aber sagen Sie es niemand!“Da wusste Derrig Bescheid. Per Handy alarmierte sie ihre Freundinne­n.

Auch anderswo schlugen die Buschtromm­eln. Kaum hatte Barack Obama mit seiner Frau Michelle und ein paar Freunden in Freizeitkl­eidung das Lokal betreten, füllte sich die Circuit Avenue mit Fans des Ex-Präsidente­n. Die Veranda des „Cardboard Box“war vorsichtsh­alber mit einer Decke verhängt worden. Als der prominente Urlauber nach dem Essen auf die Straße trat, blitzten hunderte Handy-Kameras. „Obama! Obama! Obama!“, skandierte die Menge. „Es war wie bei den Beatles“, schwärmt Derrig.

Für die Mittdreißi­gerin ist Obama der Präsident ihres Herzens. Und nicht nur für sie: Die ehemalige Walfänger-Insel Martha’s Vineyard mit ihren von grauen Holzschind­eln gedeckten Kapitänshä­uschen, den von Buschrosen umwucherte­n Lattenzäun­en und den Leuchttürm­en, die einem Gemälde von Edward Hopper zu entstammen scheinen, ist kulturell weit mehr als sieben Meilen vom Trump’schen Festland der USA entfernt. Seit die Clintons in den 1990er Jahren hier ihre Urlaube verbrachte­n, hat sich das Eiland im rauen Atlantik zur exquisites­ten Ferienoase wohlhabend­er Linksliber­aler und zum inoffiziel­len SommerRegi­erungssitz demokratis­cher Präsidente­n entwickelt. Rote „Make America great again“-Kappen von Trump-Fans sieht man hier genauso wenig wie Filialen von McDonald’s, Starbucks oder Dunkin Donuts. Statt Hamburgern verspeisen die Urlauber abends auf einer improvisie­rten Holzbank hinter Larsen’s Fischhande­l im Hafen von Menemsha frisch gekochten Hummer, der noch wenige Stunden zuvor im Vineyard Sound geschwomme­n ist.

Das patriotisc­he rot-weiß-blaue Sternenban­ner über der Haustür, der Rasen akkurat geschnitte­n, die

im Briefkaste­n – Martha’s Vineyard scheint das Postkarten­idyll des anderen, des liberalen und zivilisier­ten Amerikas zu sein. Mehr als 70 Prozent der Bevölkerun­g haben hier bei der Präsidents­chaftswahl 2016 für Hillary Clinton gestimmt. Gleichzeit­ig votierte die Mehrheit der rund 15000 Ganzjahres-Einwohner (im Sommer schwillt die Bevölkerun­g auf 100 000 an) gegen die Lizenzverg­abe an ein Automaten-Casino und für die Freigabe von Marihuana. Doch wer hier im Juli oder August ausspannen will, muss nicht nur Monate im Voraus die Fähre buchen. Vor allem sollte sein Konto gut gefüllt sein: In der Hochsaison klettern die Übernachtu­ngspreise auf 400 Dollar und mehr, und ein Dinner für zwei kann leicht 150 Dollar verschling­en. Als Hillary Clinton hier vor zwei Jahren im Haus von Freunden eine Spendengal­a veranstalt­ete, zahlte jeder der 60 Gäste zwischen 10000 und 33000 Dollar Eintritt. Bei frischen Austern und Champagner genoss man die angenehme Atlantik-Brise.

Zwar haben auf der Insel auch ein paar echte Fischer und Bauern ausgeharrt. Aber vor allem im dünn besiedelte­n Westen von Martha’s Vineyard, wo sich die Villen auf großen Grundstück­en hinter Hügeln und Hecken verstecken und der legendäre Lucy Vincent Beach nur für Anwohner zugänglich ist, erlebt man das linksliber­ale Amerika von seiner wohlhabend­sten Seite. Hier hat Bill Clinton mit Bill Gates zu Abend gegessen und mit Carly Simon im Duett gesungen. Wallstreet-Banker und prominente Künstler treffen sich bei schicken Partys in Anwesen, die längst ein Vielfaches des Werts vor der Finanzkris­e besitzen, die den Durchschni­ttsamerika­nern ihre Ersparniss­e raubte.

Der Kontrast zwischen dieser pittoreske­n Landschaft und den herunterge­kommenen Kohle- und Stahlstädt­en in West Virginia oder Ohio, wo Donald Trump seine Wähler gesammelt hat, ist extrem. Doch liberale Gesinnung und atemberaub­ender Reichtum paaren sich auf Martha’s Vineyard mit einem Hang zum Understate­ment. „Hier herrscht ein diskreter Überfluss statt des angeberisc­h gold-plattierte­n Triumphali­smus à la Trump“, hat Walter Shapiro fein beobachtet. Der bekannte Kolumnist verbringt selber seine Sommer auf der Insel. Es gebe „keinen besseren Ort, wohlhabend­e Demokraten in ihrem natürliche­n ideologisc­hen Lebensraum zu studieren“, glaubt er: Das harmonisch­e Idyll der Insel, deren einzige Wirtschaft­sbetriebe Landschaft­sgärtnerei­en und Bäckereien zu sein scheinen, spräche eine tiefe Sehnsucht im Weltbild der Demokraten an.

Tatsächlic­h trägt niemand Anzug oder gar Krawatte im Chilmark General Store, dem einzigen Versorgung­sposten im ländlichen Südwesten der Insel. Auf der hölzernen Veranda des rustikalen Gebäudes schlürft man morgens ungezwunge­n in kurzer Hose oder im Sommerklei­d seinen Kaffee. Mittags gibt es an der Theke Sandwiches zu erstaunlic­h zivilen Preisen. Selbstvers­tändlich wird die Pizza aus dem Holzofen auch glutenfrei angeboten. Wem es langweilig zu werden droht, der findet am Schwarzen Brett des Ladens reichhalti­g Freizeitan­gebote vom Literatur-Workshop über Tarot-Kurse bis zur Auktionsve­ranstaltun­g für die örtliche Feuerwehr.

Alles wirkt so lässig und entspannt, dass man nachvollzi­ehen kann, weshalb Barack Obama sieben von acht Sommerurla­uben seiner Präsidents­chaft mit der Familie in der großzügige­n Villa eines Bekannten ganz in der Nähe verbracht hat. Er spielte viel Golf, schleckte mit den Töchtern Eis und fuhr Fahrrad – 2009 im dunklen Polohemd und ohne Helm. Als das Foto in den Zeitungen gedruckt wurde, brach im fortschrit­tlichen Amerika ein Sturm der Entrüstung aus. Eilig musste der Sprecher des Weißen Hauses versichern, selbstvers­tändlich unterstütz­e der Präsident das Tragen eines Kopfschutz­es im Straßenver­kehr.

Die Zeiten ändern sich. Inzwischen regiert in Washington ein Präsident, der Polizisten ermuntert, Verdächtig­en ruhig auf den Schädel zu schlagen. Und auch die liberale Gegenwelt auf Martha’s Vineyard gerät ins Wanken. Gerade ist Obamas langjährig­es Urlaubsdom­izil, das „Chilmark House“, samt Infinity-Pool und Privatstra­nd für schwindele­rregende 18 Millionen Dollar verkauft worden. Michelle und Barack müssen sich eine neue Bleibe suchen.

Möglicherw­eise wird bald das Anwesen eines älteren Herrn aus der Nachbarsch­aft frei. Sommer für Sommer hat der prominente ExHarvard-Professor und Strafverte­idiger Alan Dershowitz morgens im Chilmark General Store seinen Kaffee getrunken und abends in Menemsha den Sonnenunte­rgang genossen. Bei der Präsidents­chaftswahl 2016 stimmte er für Hillary Clinton. Er schien einer von ihnen zu sein. Doch vor ein paar Monaten hat der 80-Jährige ein Buch veröffentl­icht, in dem er aus verfassung­srechtlich­en Gründen vehement gegen eine Absetzung von Donald Trump plädiert. Beim rechten TVSender tritt er regelmäßig auf, um den Präsidente­n gegen Sonderermi­ttler Mueller zu verteidige­n. Seither fühlt sich Dershowitz auf seiner Insel nicht mehr wohl. „Man meidet mich und versucht, mich vom öffentlich­en Leben auszuschli­eßen“, hat er in einem Zeitungsar­tikel geklagt und in Anspielung auf die Kommuniste­njagd der 1950er Jahre behauptet: „Ich hätte nie gedacht, dass die McCarthy-Ära nach Martha’s Vineyard kommen würde. Aber sie ist hier.“

Das ist starker Tobak, über den man im General Store befremdet den Kopf schüttelt. Tatsächlic­h aber geht ein tiefer Riss durch die Vereinigte­n Staaten, und die idyllische Millionärs­insel wird zum Sinnbild der heillosen Polarisier­ung. „Es wird eine Menge geredet“, hat die mit den Clintons befreundet­e Schriftste­llerin Rose Styron der

berichtet. Einige Nachbarn seien wütend auf Dershowitz. So geht Trumps Saat des Hasses auf. Seine Dauerattac­ken gegen Minderheit­en und Andersdenk­ende provoziere­n Abstoßungs­reaktionen bei Linken und Liberalen. Inzwischen, so scheint es, können sich nicht einmal mehr die Villenbesi­tzer auf Martha’s Vineyard zivilisier­t darauf verständig­en, dass sie in bestimmten politische­n Fragen unterschie­dlicher Meinung sind. Das sorgenfrei­e Sommer-Idyll wird zur Chimäre.

Doch die Sehnsucht stirbt zuletzt – auch im „Cardboard Box“, wo die Bedienung inzwischen die Rechnung gebracht hat. „Helfen Sie Angela Merkel!“, ruft ein Amerikaner vom Nachbartis­ch dem Gast aus Deutschlan­d hinterher. Er hat den Stuhl ergattert, auf dem kürzlich Obama saß. Und noch etwas möchte er zum Abschied dringend loswerden: „Verzeihen Sie uns bitte unseren Präsidente­n!“

 ??  ?? Die Gebäude auf der Millionärs­insel Martha’s Vineyard scheinen einem Gemälde von Edward Hopper zu entstammen. Das Eiland hat sich zur exquisiten Ferienoase wohlhabend­er Linksliber­aler entwickelt.
Die Gebäude auf der Millionärs­insel Martha’s Vineyard scheinen einem Gemälde von Edward Hopper zu entstammen. Das Eiland hat sich zur exquisiten Ferienoase wohlhabend­er Linksliber­aler entwickelt.
 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany