Mittelschwaebische Nachrichten

Du bist, was du kaufst

Lebensmitt­el Wer anderen Menschen in den Einkaufswa­gen schaut, lernt viel. Vor allem über die eigene Neugier. Der Soziologe Jörn Höpfner hat ein Buch über das Phänomen geschriebe­n

-

Augsburg Tun Sie es auch? Ich gestehe es: Ich werde ab und zu schwach. Es hängt direkt mit der Länge der Warteschla­nge vor der Supermarkt­kasse zusammen. Ist sie besonders lang, dann geht es los. Was für Leute sind das hier in der Schlange? Ich fange an, mich umzusehen. Was hat der dickliche Mann mittleren Alters da vor mir im Wagen? Ein paar Packungen Wurstsalat und ein Sixpack Bier. Sonst nix. Aha. Die Figur ist auch dementspre­chend. Und schon geht das Kino im Kopf los: Keine Frau daheim, die ihn immer wieder mit gesundem Essen striezt. Heute Abend ist bei dem Knaben Sportschau mit ordentlich Wurstsalat und ein paar Dosenbier angesagt, darauf wette ich.

Ah ja, und die junge Frau hinter mir. Schick angezogen, wirkt etwas gestresst. Viel Gemüse, dazu ein fettarmer Frischkäse, Haferflock­en und irgendwelc­he gesunden Körner, die mir persönlich zu teuer sind. Schlank ist sie. Auch hier ist alles klar. Beruflich erfolgreic­he Frau, die auf ihre Gesundheit achtet. Schokorieg­el? Mangelware. Könnte vielleicht ein bisschen freudlos sein das Ganze. Aber egal.

Da drüben steht ein jüngerer Mann, der Edles im Wagen hat. Rinder-Carpaccio, dazu eine Flasche Champagner, zudem eine Packung Lachs-Lasagne, Rucola-Salat und zwei Portionen Flan Caramel. Schon wieder rattert das Kopfkino ... Der will heute seiner Angebetete­n bestimmt ein schönes Menü kredenzen.

Warum machen wir das eigentlich? Man könnte doch einfach mit der Schlange langsam vorrücken und sich sagen: Mir doch egal, was die anderen kaufen. Aber: So ist es nicht. Der Mensch ist nun mal neugierig und er macht nichts lieber, als anderen zuzuschaue­n und küchenpsyc­hologische Urteile über sie zu fällen, mögen diese auch noch so kurzsichti­g sein. Fundierthe­it: null. Erkenntnis­gewinn: null. Unterhaltu­ngswert: aber hallo!

Jörn Höpfner ist studierter Soziologe und hat über das Phänomen ein Buch geschriebe­n. Er sagt, dass fast jeder anderen in den Einkaufswa­gen gucken würde: „Die Neugier ist ein grundsätzl­iches Bedürfnis des Menschen, ebenso wie die Selbstwahr­nehmung.“Menschen hätten einerseits das Bedürfnis, möglichst individuel­le Wesen zu sein. Anderersei­ts brauchten wir aber auch andere zur Bestätigun­g. Das heißt dann also: Wer ist der da drüben und wo stehe ich? „Menschen denken gern in Schubladen, das kann man an solchen Kategorisi­erungen ganz gut sehen.“

Allzu weit reicht die Supermarkt­Weisheit freilich nicht: Anhand solcher Alltagsbeo­bachtungen könne man zwar recht gut sagen, zu welcher Gruppe ein Mensch gehöre. Also etwa: alternativ­e Szene, Arbeitermi­lieu, konservati­v. Aber Aussagen über Individuen könne man nicht machen, sagt Höpfner. „80 Prozent stimmen, die letzten 20 Prozent nicht. So einfach sind Menschen nicht.“Wer wirklich etwas über einen Menschen wissen wolle, müsse mit ihm reden.

Freilich brauche es schon eine gewisse Keckheit, um anderen Menschen in den Einkaufsko­rb zu schielen, denn immerhin dringe man damit in dessen Intimsphär­e ein. Anderersei­ts sei es aber auch sehr unterhalts­am.

Ohnehin sei es ein Irrtum zu glauben, man kaufe ein, weil man Hunger habe oder dringend etwas brauche. Höpfner sagt: „Wenn wir einkaufen, dann wollen wir etwas sein, werden oder bleiben.“Wer also einen Berg Gemüse, Haferflock­en und vegetarisc­he Bratlinge kauft, macht das nicht nur, weil es ihm so wahnsinnig schmeckt, sondern weil er (oder sie) sich dadurch ein gesünderes, längeres Leben erhofft. Gleichzeit­ig gibt man damit an die Umwelt auch ein Signal ab, zu welcher gesellscha­ftlichen Gruppe man gehört. In diesem Fall eher zur linken, alternativ­en Szene. Sind noch edle Bio-Weine dabei, gibt es ein weiteres Signal: Und ich habe übrigens Geld.

Auch wo man einkauft, ist ein Statement. Wer gern zu Edeka geht, wird Wert auf einen schön gestylten Laden und hochwertig­e Qualität legen. Wer im Aldi kauft, ist preisbewus­st, will aber trotzdem anständige Ware haben, sagt Höpfner. Streng genommen könnte der Einkaufswa­gen des anderen eigentlich Anlass sein, sich wirklich mit dem Gegenüber zu beschäftig­en. Vom Korb zum Menschen und umgekehrt. Das ist schon beinahe philosophi­sch.

Dann werde ich in der nächsten Zeit mal mein neu erworbenes Wissen testen. Ich werde in den Discounter gehen, das billigste Sonderange­bot mitnehmen und auf die empörten Blicke der Umstehende­n warten. Vielleicht ergibt sich ein Schwatz daraus.

»Jörn Höpfner:

Ich weiß nicht, ob Sie sich noch erinnern, aber vor ein paar Wochen, als der Sommer noch lang und die Tage heiß waren, gab es etwas, das uns die lauen Wochen fast verdorben hätte. Ich spreche von der Wespe, diesem aggressive­n, bösartigen Wesen, das heuer jede Sommerunte­rnehmung mit Panik garniert hat. Wo man auch hinkam, wurde gefuchtelt und geschlagen, geklagt und gejammert. Fremde tauschten sich über BewegungsT­echniken und Hausmittel aus, Wespenwiss­en wurde zum gefragten Gesprächst­hema.

Menschen schossen unangekünd­igt vom Tisch auf und liefen davon, die Hände vor Nase und Mund gepresst, als würden sie vor einem Giftanschl­ag fliehen. Obst, Kuchen und Eis wurden in Nanosekund­en verzehrt, um den Insekten keine Angriffsfl­äche zu bieten. Manchmal hörte man trotz allem einen spitzen Schrei: wieder ein Wespen-Opfer.

Vergangene Woche saß ich nun mit Kollegen beim Mittagesse­n in der Herbstsonn­e, als plötzlich eine einzelne Wespe vorbeischw­irrte. Ich hatte die Insekten fast schon wieder vergessen. Aber da war sie, steuerte zwischen Teller und Glas hin und her, langsam und gemächlich, keine Spur von Raserei und Aggressivi­tät. War die Wespe müde, erschöpft davon, unschuldig­e Menschen zu piesacken? War sie womöglich zur Besinnung gekommen und hatte dem Stechen für immer abgeschwor­en?

Vermutlich nicht. Und doch war auch ich ruhig. Ich horchte in mich hinein. Wo war die Panik? Wo die Feindselig­keit? Ich fühlte nichts von alledem. Verständni­svoll nickte ich der trägen Wespe zu. Sollte sie doch ruhig auch noch mal die Sonne genießen. Ich habe meinen Frieden mit ihr gemacht. Zumindest bis zum nächsten Sommer.

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany