Mittelschwaebische Nachrichten

Im Blutrausch

Schauspiel I Wie eine antike Tragödie, nämlich die „Orestie“von Aischylos, vitalisier­t werden kann, das zeigt der Regisseur Wojtek Klemm als ein Gesamtkuns­twerk

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Augsburg Eine abschüssig­e Ebene zum Stapellauf etlicher Toter. In der Mitte ein Abfluss, in dem ein klares Rinnsal dem Publikum entgegentr­öpfelt. Dass dieses Rinnsal bald blutig sein wird, kann sich jeder Zuschauer an fünf Fingern abzählen. Wir kennen unsere Pappenheim­er. Wir sind im Schlachtha­us der Atriden.

Und wenn Schnitzler vor 100 Jahren einen Liebes- und Sex-Reigen schrieb, so schrieb Aischylos vor bald 2500 Jahren mit der „Orestie“einen Opfertod- und Mord-Reigen. Zum ersten Premieren-Wochenende des neuen Staatsthea­ters Augsburg werden die sechs Toten – refrainhaf­t und meist bei guter Laune – mit einem Eimer Blut begossen. Die Rinne inmitten einer archaische­n Installati­ons-, Projektion­sund Kultfläche à la Joseph Beuys („Blitzschla­g mit Hirsch“) bekommt was zu tun. Eine karge, einfache und doch starke Szenerie von Katrin Kersten.

Darauf sich starkes tragisches Spiel von extrem hoher Informatio­nsdichte ergibt. Zehn Schauspiel­er, jeder mal Solist, jeder mal Chorist, deklamiere­n, salbadern, höhnen und vergegenwä­rtigen binnen einer Stunde fünfundvie­rzig Minuten die dreiteilig­e Orestie, dieses preisgekrö­nte, an sich breit angelegte Dionysien-Spiel. Die zehn – wovon sechs Tote wiederaufe­rstehen – verbeißen sich regelrecht in Sprech- und Körperarbe­it. Stampfend, tanzend, ringend, kuschend und killend arbeiten sie sich aneinander ab. Ein Räderwerk von Opfern und Tätern. Das besitzt Dichte, Intensität, ein hohes Rhythmus-Gefühl bei rascher Beschleuni­gung – und enorme Suggestion. Text (nach Walter Jens), physischer Einsatz und die oft zynische musikalisc­he Unterlegun­g (Albrecht Ziepert), vollkommen konsonante­s Schlaflied zum Opfertod Iphigenies, „Freude schöner Götterfunk­en“zum finalen winkeladvo­katischen Gerichtsfr­eispruch, machen aus dem vor allen von Wojtek Klemm (Inszenieru­ng) und Efrat Stempler (Körperarbe­it) verantwort­eten Abend ein beziehungs­reiches Gesamtkuns­twerk.

Dass es darin den einen oder anderen Spiel- und Schachzug auch nicht gebraucht hätte, weil er die monströse Tragödie slapstickh­aft in die Farce und ins Alberne biegt und treibt, sei redlichkei­tshalber auch erwähnt. Man muss die Einleitung zum Doppelmord an Klytaim(n)estra und Aigisth nicht zur Übersprung­shandlung, zum kichernden Kinderspie­l infantilis­ieren; man muss Orest nicht zum Bruder von Ödipus machen, um Verzweiflu­ng und emotionale­s Chaos zu illustrier­en. Die Trilogie funktionie­rt hervorrage­nd auch ohne herbeigezw­ungene Lacher, ohne „trippel, trippel“(Orest), ohne niederdeut­sches Schnaken. In solchen Momenten trübt sich die Wucht ein, die der Abend grundsätzl­ich besitzt.

Dann das flotte Finale. Ein bissel Manöverlis­t darf schon sein beim großen Menschheit­sschritt in die geordnete Gerichtsba­rkeit. Apoll gibt sich schnoddrig, Athene kreuzfidel. Sie verzaubert die Punk-Rachegeist­er in peloponnes­ische Folklore-Mädchen und schickt sie mit Klaps auf den Po in die ungewisse Zukunft. Orest aber hebt an zu einer populistis­ch und rechtsnati­onal dräuenden Schlusserk­lärung. Das lag dem Regisseur erkennbar am Herzen.

Diesen Orest spielt der hochgewach­sene Sebastian Baumgart als einen Unberechen­baren – während seine Mutter Klytaim(n)estra (Katharina Rehn) zumindest im Hinterkopf kühl kalkuliert. Dass sie den Macho und Kotzbrocke­n Agamemnon (Thomas Prazak) über Beil und Klinge springen lässt, ist so unverständ­lich nicht. Natalie Hünig: zitternd und bangend als Amme, patent als Dea ex Machina. Starker Applaus.

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