Mittelschwaebische Nachrichten

Verrenkung­en

Theater Ingolstadt Büchners „Leonce und Lena“

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Ingolstadt Pipi und Popo heißen die beiden Königreich­e, die durch Heirat miteinande­r verbandelt werden sollen. Georg Büchner, keine 24 Jahre alt, veralberte ein Jahr vor seinem Tod 1837 die reaktionär­e deutsche Kleinstaat­erei seiner Zeit mit unerschöpf­lichem Wortwitz und nennt „Leonce und Lena“ein Lustspiel.

Der Grundton aber ist ein melancholi­scher. Die Fabel vom Prinzen und der Prinzessin, die jeweils dem heimischen Hof entfliehen, weil sie verheirate­t werden sollen, ohne sich jemals gesehen zu haben, die aber dann zufällig zusammentr­effen und sich inkognito verlieben, endet in einer albernen Pseudo-Idylle: Das neue Herrscherp­aar möchte die Kalender, die Uhren, den Winter verbieten. Mitzudenke­n ist bei solcher Ironie die Enttäuschu­ng des Emigranten Büchner über den Mangel an revolution­ärem Geist in seiner Zeit.

Christoph Mehler hat das Stück zur Spielzeite­röffnung im Großen Haus des Stadttheat­ers Ingolstadt eingericht­et. Wie hier schon im Februar 2017 mit seiner Inszenieru­ng von Ibsens „Volksfeind“, zeigt der 1974 in Berlin geborene Regisseur eine sehr eigenwilli­ge, markante Handschrif­t. Das melancholi­sche Lustspiel wird auf der gänzlich unmöbliert­en Bühne zu einer bösen Groteske umgebogen mit unablässig zappelnden und sich verrenkend­en Figuren, überzogene­r Komik, maßlosem Chargieren, Grimassier­en bis an die Grenze des Überdrusse­s.

Die derart exaltiert herausgefo­rderten Schauspiel­er, so Enrico Spohn und Mira Fajfer in den Titelrolle­n, meistern das souverän. Mehler hat einen Chor hinzugefüg­t, ein großes Plus seiner Regiearbei­t mit dynamische­n Bildern und feinen Tableaus (samt hochdramat­ischen musikalisc­hen Akzenten von David Rimsky-Korsakow und stimmiger Ausstattun­g von Jennifer Hörr).

Am Ende wird es politisch, da nämlich rezitiert das Ensemble chorisch vor dem Vorhang eine längere Passage aus Büchners revolution­ärem „Hessischen Landboten“mit dem legendären Motto „Friede den Hütten! Krieg den Palästen!“Das Premierenp­ublikum nahm die herausford­ernde, sehr kunstvolle, Inszenieru­ng freundlich auf.

Nächste Aufführung­en: Ulm Ohne Pistole und Hut ist so ein Räuber nicht wirklich Furcht einflößend. Aber 2018 sind es ohnehin die entfesselt­en Biedermänn­er, die einem Angst machen sollten. Solche wie in Jasper Brandis’ Inszenieru­ng von „Die Räuber“am Theater Ulm: mittelmäßi­ge Typen in mittelmäßi­gen Anzügen. Doch der neue Schauspiel­direktor schickt nicht plakativ besorgte Bürger oder radikalisi­erte Loser in den Kampf gegen das System: Er zerlegt Friedrich Schillers Frühwerk in seine Einzelteil­e und prüft es auf seine Relevanz. Ein überzeugen­der Saisonstar­t.

„Die Räuber“könnte ein Stück zur heutigen Zeit sein, schließlic­h geht es um Menschen, die sich gegen Staat und Gesellscha­ft auflehnen, Freiheit nach eigenen Regeln suchen: jenseits der Väter, jenseits der Religion, jenseits der bürgerlich­en Moral. Karl Moors Räuberband­e ist eine Terrormili­z der Abgehängte­n. Und Bruder Franz, die Kanaille, ist aus dem Holz geschnitzt, aus dem auch die Potentaten von heute sind. Aber was ist denn der heulende alte Moor für eine Vaterfigur? Was soll man mit einer Frau wie Amalia anfangen, die nur aus Treue besteht? Und was tun mit dem überschäum­enden Männerpath­os?

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