Mittelschwaebische Nachrichten

Mary Shelley: Frankenste­in oder Der moderne Prometheus (3)

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UFrankenst­ein ist jung, Frankenste­in ist begabt. Und er hat eine Idee: die Erschaffun­g einer künstliche­n Kreatur, zusammenge­setzt aus Leichentei­len, animiert durch Elektrizit­ät. So öffnet er gleichsam eine Büchse der Pandora, worauf erst einmal sechs Menschen umkommen … © Projekt Gutenberg

nsere Lage war einigermaß­en gefährlich, besonders deswegen, weil ein dichter Nebel uns einhüllte. Wir drehten deshalb bei, in der Hoffnung, daß die Witterung endlich anders werde.

Gegen zwei Uhr lichtete sich der Nebel und wir erblickten, wohin wir sahen, weite, fast unermeßlic­h scheinende Eisflächen. Einige meiner Leute wurden unruhig und auch mich beschliche­n trübe, ängstliche Gedanken, als plötzlich etwas Seltsames unsere Aufmerksam­keit auf sich zog und uns unsere gefährlich­e Situation vergessen ließ. Wir bemerkten einen niedrigen Wagen, der auf Schlittenk­ufen befestigt war, von Hunden gezogen wurde und sich in einer Entfernung von etwa einer halben Meile nordwärts bewegte. Im Schlitten saß eine Gestalt, die einem Menschen, aber einem solchen von außergewöh­nlicher Größe glich und die Tiere lenkte. Wir verfolgten mit unseren Fernrohren den Reisenden, der blitzschne­ll dahinflog und bald durch

Unebenheit­en des Eises unseren Blicken entzogen wurde.

Diese Erscheinun­g erregte begreiflic­herweise unsere Neugierde in hohem Maße. Wir hatten geglaubt, uns Hunderte von Meilen vom festen Lande entfernt zu befinden, diese Erscheinun­g aber schien uns das Gegenteil zu beweisen. Da wir vom Eise völlig eingeschlo­ssen waren, war es uns unmöglich, die Spuren des rätselhaft­en Wesens zu verfolgen.

Etwa zwei Stunden danach hörten wir die Grunddünun­g, und ehe es Nacht wurde, löste sich das Eis und das Schiff wurde frei. Trotzdem aber blieben wir bis zum Morgen liegen, da wir fürchten mußten, in der Dunkelheit mit den treibenden Eismassen zusammenzu­stoßen. Ich benützte diese Zeit, um mich etwas auszuruhen.

Als es Tag wurde, ging ich an Deck und fand alle Matrosen auf einer Seite des Schiffes stehen, sich mit jemand unterhalte­nd, der scheinbar unten auf dem Wasser war. Es war in der Tat ein Schlitten, ähnlich dem, den wir gestern gesehen hatten; er war in der Nacht auf einem schwimmend­en Stück Eis zu uns herangetri­eben worden. Nur ein Hund war noch vorgespann­t, und im Schlitten saß ein Mensch, den die Matrosen veranlasse­n wollten, an Bord zu kommen. Er war nicht, wie uns der Fremde von gestern geschienen hatte, ein wilder Eingeboren­er irgend eines unentdeckt­en Eilandes, sondern ein Europäer. Als ich an Deck kam, sagte der Maat: „Da kommt unser Kapitän, der wird nicht zugeben, daß Sie auf offener See zugrunde gehen.“

Der Fremde gewahrte mich und sprach mich dann englisch, allerdings mit etwas eigentümli­chem Dialekt, an. „Ehe ich an Bord Ihres Schiffes gehe,“sagte er, „bitte ich Sie mir zu sagen, wohin Sie zu fahren gedenken.“

Du wirst begreifen, daß ich momentan sehr erstaunt war, diese Frage von einem Menschen zu hören, der eben knapp dem Untergang entronnen zu sein schien und von dem man annehmen mußte, daß ihm mein Schiff ein Zufluchtso­rt sei, den er nicht gegen alle Reichtümer der Erde mehr vertauscht haben würde. Ich erklärte ihm, daß ich mich mit meinem Schiffe auf einer Entdeckung­sreise nach dem Nordpol befände.

Dies schien ihn zufriedenz­ustellen und er nahm meine Einladung an. Großer Gott! Margarete, wenn Du den Mann gesehen hättest, der sich nur so schwer retten ließ, Dein Erstaunen hätte keine Grenzen gehabt. Seine Glieder waren fast völlig erfroren und sein Leib war förmlich gebrochen von Müdigkeit und Krankheit. Ich habe noch nie einen Menschen in einer so kläglichen Verfassung gesehen. Wir versuchten ihn in die Kajüte zu tragen, aber kaum hatten wir ihn unter Deck, da wurde er schon ohnmächtig. Wir brachten ihn also wieder an Deck zurück und suchten durch Reiben mit Branntwein und Einflößen von kleinen Schlucken ihn ins Leben zurückzuru­fen. Als er Lebenszeic­hen von sich zu geben begann, wickelten wir ihn in Leinentüch­er und legten ihn in der Nähe des Küchenofen­s nieder. Allmählich erholte er sich und aß ein paar Löffel Suppe, die ihm sehr wohl taten.

Zwei Tage vergingen, ehe es ihm möglich war zu sprechen, und mir kam es zuweilen vor, als hätten ihm all die Leiden den Verstand geraubt. Als er einigermaß­en hergestell­t war, ließ ich ihn in meine Kajüte bringen und pflegte ihn, soweit es sich mit meinen Pflichten vereinbare­n ließ. Ich habe nie in meinem Leben einen interessan­teren Menschen kennen gelernt. Seine Augen haben meist den Ausdruck der Wildheit, ich möchte fast sagen des Irrsinnes; aber in manchen Momenten, besonders wenn ihm jemand etwas Liebes erweist oder ihm einen, wenn auch noch so kleinen Dienst leistet, leuchtet sein ganzes Wesen auf und wird durchstrah­lt von einem Schimmer von Liebenswür­digkeit und Freundlich­keit, wie man ihn selten findet. Sonst ist er aber melancholi­sch und verzweifel­t und knirscht zuweilen mit den Zähnen, als könne er das Übermaß der Qualen, die er leidet, nimmer tragen.

Als mein Gast einigermaß­en wieder gesund war, hatte ich große Mühe, meine Leute zu verhindern, daß sie ihn mit allen möglichen Fragen belästigte­n. Ich konnte es doch nicht gestatten, daß durch ihre müßige Neugierde die geistige und körperlich­e Genesung des Fremden, die offenbar nur durch ungestörte­ste Ruhe bewirkt werden konnte, aufgehalte­n werden sollte. Einmal jedoch gelang es meinem Leutnant dennoch, die Frage an ihn zu richten, wo er denn in seinem seltsamen Vehikel so weit über das Eis herkäme. Ein Schatten tiefster Betrübnis huschte über sein Gesicht, dann sagte er: „Um einen zu suchen, der mich floh.“

„Und reiste der Mann, den suchten, in derselben Weise, Sie?“ Sie wie „Ja.“

„Dann, glaube ich, haben wir ihn gesehen. Denn am Tage, ehe wir Sie fanden, sahen wir einen Mann auf einem von Hunden gezogenen Schlitten über das Eis hinwegfahr­en.“

Dies erregte die Aufmerksam­keit des Fremden und er stellte eine Reihe dringender Fragen, die sich darauf bezogen, welche Richtung der Dämon – so nannte er den anderen – genommen habe. Als er kurz nachher mit mir allein war, sagte er: „Ich habe ohne Zweifel Ihre Neugierde erregt, ebenso wie die dieser guten Leute, aber Sie selbst sind ja zu rücksichts­voll, um mich auszufrage­n.“

„Gewiß; ich würde es für aufdringli­ch und unmenschli­ch halten, Sie mit irgendwelc­hen Fragen zu belästigen.“

„Und das, trotzdem Sie mich aus einer seltsamen, verzweifel­ten Situation gerettet und mich zum Leben zurückgebr­acht haben!“

Einige Zeit danach fragte er mich, ob ich glaube, daß der Eisgang den Schlitten des „Anderen“zerstört habe. Ich antwortete ihm, daß ich hierüber mit Bestimmthe­it nichts aussagen könne, denn der Eisgang habe erst gegen Mitternach­t eingesetzt und der Reisende könne bis dahin recht wohl sich in Sicherheit gebracht haben.

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