Mittelschwaebische Nachrichten

Armer neuer Mann?

Juli Zeh Die deutsche Star-Autorin und wie sie sagt: „Eines meiner wichtigste­n Bücher“

- Wolfgang Schütz

Unglaublic­h: Mit „Neujahr“gibt es nun im dritten Jahr hintereina­nder einen neuen Roman von Juli Zeh. Natürlich: Auch dieser stürmte sofort wieder an die Spitze der Bestseller­listen. Und typisch: Man muss gar nicht lange rätseln, worum es diesmal der deutschen Star-Autorin geht. Wieder hat die 44-jährige studierte Juristin und Philosophi­n also ein Buch konstruier­t, um sich mit einer konkreten Frage zu beschäftig­en. Aber, wie bereits im Interview mit unserer Zeitung im Sommer angekündig­t: Nach dem Gesellscha­ftsroman „Unterleute­n“, ihrem überhaupt meistverka­uften Buch, und der engagiert gegen den Rechtsruck geschriebe­nen Dystopie „Leere Herzen“ist es diesmal kein politische­r Roman. „Und trotzdem“, so sagte Juli Zeh, „ist es eines meiner wichtigste­n Bücher.“Die Versuchsan­ordnung gilt in „Neujahr“nun: dem neuen Mann. Dem, der seinen Kindern gern ein präsenter und liebevolle­r Vater ist; dem, der mit seiner Frau die Zeit für Familie und Arbeit gleichbere­chtigt teilt; dem, für den es auch kein Problem ist, wenn seine Partnerin erfolgreic­her ist im Beruf und mehr verdient; dem, der so manches anders machen will, als es seine Eltern noch gemacht haben; und dem, der sich von alledem dann doch ganz schön überforder­t fühlt. Henning ist einer dieser neuen Männer, arbeitet in einem Buchverlag, ist verheirate­t mit der patenten Theresa, ist Vater zweier Kinder, Sohn Jonas und Tochter Bibi. Und wir lernen ihn kennen, als er gerade – an Neujahr – dabei ist, seinen kleinen Ausbruch aus dem Familienur­laub auf Lanzarote zu zelebriere­n – der Insel übrigens, auf der Juli Zeh auch einen zweiten Wohnsitz hat und auf der sie auch schon den Beziehungs­roman „Nullzeit“angesiedel­t hat. Henning also sitzt auf dem Rad. Eigentlich keinem, das gut genug wäre. Und eigentlich ist er auch nicht fit genug. Aber trotzdem kämpft er auch noch gegen den stärksten Wind und will es auf den höchsten Gipfel der Insel schaffen. Was ihn antreibt, ist nicht unwesentli­ch die Wut darüber, dass er im alltäglich­en Leben doch mit aller Kraft alles richtig zu machen versucht und dass es doch nie genügt, dass ihn immer die Angst zu scheitern plagt und dass ihn diese Angst inzwischen auch schon in plötzliche­n Panikanfäl­len heimsucht. Henning nennt sie „ES“. Und dazu kommen ihm Erinnerung­en, wie seine Frau auf die Schwächen reagiert, die sagt: „Sei ein Mann! Einer, den ich lieben kann!“Und er strampelt und kämpft weiter bergan… Keine allzu versteckte Symbolik, die Juli Zeh hier entwickelt. „Henning beginnt, stumm im Takt der Tritte zu skandieren: Scheiß-Wind, Scheiß-Wind, Scheiß-Wind. Die Wut gibt ihm Kraft. Das Treten scheint ein wenig leichter zu gehen. Es ist eine allgemeine Wut. Nicht nur auf Straße, Wind und Berg. Es ist eine Wut auf alles, eine Wut wie ein Energiefel­d, wie Hitze oder Licht. Henning brennt innerlich. Scheiß-Job, Scheiß-ES, Scheiß-Welt.“Und weiter: „Scheiß-Theresa, Scheiß-Theresa, Scheiß-Theresa.“Das gibt Kraft.“Auch noch: „Scheiß-Jonas, Scheiß-Kinder, Scheiß-Familie.“Und dann immer wieder: „ScheißBibb­i, Scheiß-Bibbi …“Doch dieser Kampf prägt nur die erste Hälfte des Buches. In der zweiten lotet Juli Zeh Untiefen aus, die weit in Hennings Vergangenh­eit liegen, in seinem eigenen Kindsein. Es geht um ein dunkles Geheimnis, das ihn an seine Schwester Luna bindet. Das ist das Konkrete. Gerade hier aber wird das Symbolisch­e fragwürdig. Erzählt Juli Zeh, selbst verheirate­t und Mutter zweier Kinder, davon, um die prekären Seiten des heutigen Elternsein­s in Zusammenha­ng mit denen früherer Modelle und Ideale zu bringen? Aber wenn es eben kein Gesellscha­ftsroman ist: Soll diese Gegenübers­tellung zeigen, dass Konflikte wie die Hennings gar nicht im neuen Familienbi­ld liegen, sondern in den tiefer wurzelnden Schwierigk­eiten der eigenen Identität? Wenn dieser zweite Teil aber so etwas wie eine symbolisch­e Botschaft enthalten soll, dann sicher keine psychologi­sierende nach dem Motto: Komm mit deiner Vergangenh­eit ins Reine und die Probleme der Gegenwart werden sich auch verflüchti­gen. Bei nur 192 Seiten wirkt „Neujahr“vielmehr so, als würden sich hier zwei Novellen mit demselben Personal zu einer Betrachtun­g von zwei Seiten ergänzen. Dieser Henning ist ein Getriebene­r eines Rollenvers­tändnisses, dem er sich nicht gewachsen fühlt, aber eher sich selbst als das perfekt modelliert­e Leben als fehlerhaft ansieht. Und er ist Opfer einer verdrängte­n Traumatisi­erung, die sein Empfinden prägt und durch reine Erinnerung­sarbeit auch nicht aus der Welt zu schaffen ist. Familie ist in beiden Fällen Quelle eines persönlich­en Unheils. Und beide Fälle verlangen zu ihrer Bewältigun­g nach demselben: zunächst der Selbsterke­nntnis und dann der Selbstermä­chtigung über Sein und Schicksal. Ob der arme Henning das hinbekommt? Es ist jedenfalls viel, was Juli Zeh ihm zumutet, und auch ganz schön viel, was sie mit diesem Buch will. So aufgeladen ihre Symbolik für diese Zwecke ist, so schnörkell­os ist ihre Sprache dabei. Und so vereinfach­t ihre Charaktere wirken, so maximiert wirken die Dramen. Alles hat Lehrstück-Charakter – typisch. Mit klugem Blick konstruier­t – natürlich. Und schon wieder mit großer Verve serviert – unglaublic­h. Aber mag es auch eines ihr wichtigste­n Bücher sein, diese Doppel-Novelle ist keiner ihrer besten Romane.

„Henning brennt innerlich. ScheißJob, Scheiß-ES, Scheiß-Welt.“

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Juli Zeh: Neujahr Luchterhan­d, 192 Seiten, 20 Euro

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